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Versorgungssicherheit fördern und Arbeitsplätze schaffen

Versorgungssicherheit fördern und Arbeitsplätze schaffen

Wie viel ist genug? Diese Frage war Ausgangspunkt, um sich mit entscheidenden Zukunftsfragen für die Menschen in Niederösterreich und darüber hinaus auseinanderzusetzen. Drei Themen standen dabei im Mittelpunkt: die Veränderung der Arbeitswelt, die Verteilungsgerechtigkeit und die Versorgungssicherheit. | von Mag. Renate Haiden, MSc.

Politische Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger müssen aufhören, neue Zahlen, neue Vorschläge oder neue Maßnahmen zu präsentieren, die oft nicht einmal kurzfristig sinnvolle Lösungen beinhalten oder gar nachhaltig echte Verbesserung schaffen“, fordert Markus Wieser, Präsident der Arbeiterkammer Niederösterreich und Vorsitzender des ÖGB Niederösterreich. Der Interessensvertreter weiß genau, dass Antworten auf entscheidende Zukunftsfragen nicht immer einfach sind und nachhaltige Problemlösungen oft grundlegende Veränderungen im Denken und Handeln erfordern. Doch genau deswegen will er umso mehr hinhören, hinsehen und darüber sprechen, damit für konkrete Herausforderungen auch rasch umsetzbare Lösungen gefunden werden.

Das „3V-Memorandum“ ist das Resultat eines breiten Diskurses und Dialoges.

Sie suchen Lösungen für die Veränderung der Arbeitswelt, die Verteilungsgerechtigkeit und die Versorgungssicherheit. Die Themen sind umfassend und vielfältig. Warum haben Sie sich genau dieser drei Themen angenommen?

Als Arbeiterkammer und ÖGB sind wir die starke Stimme der arbeitenden Menschen in Österreich, und das sind knapp vier Millionen Leistungsträgerinnen und Leistungsträger im Land. Sie sichern die Wertschöpfung in der Wirtschaft, sie tragen als Konsumentinnen und Konsumenten im hohen Ausmaß zu Wachstum und Wohlstand bei und sie sorgen dafür, dass unsere Gesellschaft funktioniert. Einfach gesagt: Diese Menschen halten das Land am Laufen. Daher darf man die Probleme, die diese Zielgruppe betreffen, nicht halbherzig angehen oder auf die lange Bank schieben.

Warum setzen Sie die Themen gerade jetzt auf die Agenda?

Weil wir keine Zeit mehr haben, lange abzuwarten. Die Pandemie hat gezeigt, wie rasch unser gewohntes Leben aus dem Gleichgewicht kommen kann. Krisen und Konflikte verschärfen sich, daher sind Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger gefordert, hier möglichst vorausschauend und vorausdenkend mit passenden Konzepten vorbereitet zu sein. Wir haben uns dieser Themen angenommen und in einem sogenannten „3V-Memorandum“ das Resultat eines breiten Diskurses und Dialoges zusammengefasst. Darin liegen Lösungsvorschläge für die Zukunftsfragen des Landes vor. Es geht um die faire Verteilung von Arbeit und Einkommen, eine effektivere Verhinderung von Lohn- und Sozialdumping, mehr öffentliche Gesundheitsprogramme für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie den Kampf gegen Steuersümpfe.

Wie kam dieser Prozess in Gang?

Der Ausgangspunkt war ein gemeinsamer Besuch der Sozialpartner in Brüssel, bei dem die Nachhaltigkeit im Mittelpunkt stand. Einzelne Aspekte, wie E-Mobilität, Energieeffizienz oder Ressourcenschonung wurden diskutiert. Das sind natürlich wichtige Fragen, aber nur punktuell lösungsorientiert. Es wurde rasch klar, dass wir in größeren Dimensionen denken müssen, das heißt in gesamten Lebenszyklen von der Gewinnung von Rohstoffen, den Produktionsprozessen bis hin zum Recycling. All diese Themen machen zudem nicht an den Grenzen Europas halt. Staaten, die ihre Produkte hierher exportieren wollen, sollen sich an die gleichen hohen Umweltstandards halten müssen wie europäische Betriebe. Damit sind wir dann rasch an der Frage der fairen Verteilung von Arbeit und Einkommen angelangt.

Wer war in die Erarbeitung involviert?

Den Lösungsvorschlägen liegt ein breiter Dialog und Diskussionsprozess zugrunde, der schon vor der Pandemie in Gang gesetzt wurde. Der Expertise der Fachleute der Arbeiterkammer Niederösterreich wurde ein eigens eingerichteter interdisziplinärer Beirat unter Koordination von Prof. Helmut Detter hinzugefügt, dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen angehörten. Wir haben dazu Kammerrätinnen und Kammerräte, Betriebsrätinnen und Betriebsräte, Sozialpartner, Vertreterinnen und Vertreter der Industrie und regionale Verantwortungsträgerinnen- und -träger wie Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sowie regionale Versorger an diesem Prozess beteiligt. Das Memorandum ist die lesbare Zusammenfassung von vielen Tausend Seiten Expertise, die dahinter stecken. Mir ist es wichtig, dass die Ergebnisse verständlich aufbereitet sind, wer tiefer in die Themen eintauchen möchte, ist gerne dazu eingeladen.

Um welche Veränderung der Arbeitswelt geht es konkret?

In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden in Österreich um 120 Millionen gesunken. Gleichzeitig ist die Zahl der Beschäftigten um 350.000 gestiegen. Wenn man die Arbeit nicht fairer verteilt, dann wir künftig nicht mehr jede/jeder eine Beschäftigung finden. Globalisierung, Automatisierung und Digitalisierung haben die Arbeitswelt bereits massiv verändert. Die Rationalisierung und Kostenoptimierung von Produktions- und Innovationsprozessen schafft höhere Gewinne – aber zulasten der Erwerbsbevölkerung. Arbeit wird heute wesentlich produktiver, orts- und zeitunabhängiger vollzogen als vor wenigen Jahren. Dazu kommt, dass sich durch die Pandemie auch die individuellen Vorstellungen von Arbeit verändert haben. Menschen wollen verstärkt ins Homeoffice und legen größeren Wert auf ihre Work-Life-Balance. Gleichzeitig steigt die Belastung der Menschen im Arbeitsleben ständig an. Die Arbeitsverdichtung im Beruf, Just-in-Time-Lieferungen, die Entgrenzung von Beruf und Freizeit sind nur einige Beispiele.

Warum braucht es eine neue Verteilungsgerechtigkeit? 

Mit der angesprochenen Entwicklung hat sich die Wertschöpfung verschoben. Vor etwa 70 Jahren wurde rund 90 Prozent der gesamten Arbeit aus menschlicher Arbeitskraft geleistet. Heute werden rund 40 Prozent der Wertschöpfung von Maschinen, Computern oder KIs übernommen. In diesen 70 Jahren hat sich aber nichts daran geändert, dass alle Steuern und Abgaben auf dem Faktor Arbeit und auf den Schultern der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer lasten bleiben. Sozialausgaben werden überwiegend so finanziert wie vor Jahrzehnten: über Sozialversicherungsbeiträge. In immer mehr Betrieben werden zunehmend aber jene produktiv, die gar keine Sozialabgaben zahlen – Roboter, Maschinen und automatische Steuerungstechniken. Es ist daher dringend notwendig, Überlegungen anzustellen, wie diese Last umverteilt wird. Wenn man nur drei oder vier Prozent dieser Wertschöpfung in Gesundheit, Bildung oder Pflege investieren würde, wäre das eine zukunftsträchtige Lösung.

Lieferketten müssen kürzer werden, das schafft Sicherheit und ist auch gut für die Umwelt.

Welche Rolle spielt die Versorgungssicherheit in der Gesellschaft?

Seit Jahrzehnten werden Wirtschaftsbereiche aus Kostengründen in Niedriglohnländer verlagert. Die Lagerhaltung wird auf günstigere Transportwege verlegt. Wie trügerisch die Vorteile sind, hat die Coronakrise deutlich gezeigt. Wichtige Güter wie Schutzausrüstung und Medikamente sind über Nacht nicht mehr verfügbar gewesen. Wir brauchen Krisenpläne, damit wir bei Energie, Wasser oder Grundnahrungsmitteln nicht in die gleiche Situation kommen. Die Lieferketten müssen kürzer werden, das schafft Sicherheit und ist auch gut für die Umwelt. Daher fordern wir in unserem Memorandum Bedingungen, die einerseits die Produktion wichtiger Güter zurück nach Europa, Österreich und am besten nach Niederösterreich bringen. Das schafft Versorgungssicherheit und Arbeitsplätze gleichzeitig.

Die Produktion wichtiger Güter muss zurück nach Europa, Österreich und am besten nach Niederösterreich. Das schafft Versorgungssicherheit und Arbeitsplätze gleichzeitig.

Der Projektfonds “Arbeit 4.0” fördert in NÖ heuer Projekte zum Thema Versorgungssicherheit. Sie legen einen starken Fokus auf Gemeinden. Was erwarten Sie hier?

Im Jahr 2021 stand die Veränderung der Arbeitswelt im Mittelpunkt und damit auch die Förderung von Initiativen in Betrieben. Heuer haben wir uns die Versorgungssicherheit vorgenommen, der Fokus liegt damit schwerpunktmäßig auf den Kommunen. Sie stellen nicht nur viele Dienstleistungen und Güter für die Bürgerinnen und Bürger zur Verfügung. Als starker Partner der lokalen Wirtschaft sichern sie Arbeitsplätze in der Region. Durch Corona leiden auch Gemeinden unter massiven Einnahmenausfällen und stehen unter finanziellem Druck. Es gab zwar bereits zwei Hilfspakete des Bundes, beim ersten Paket mussten allerdings 50 Prozent der Kosten der Programme in den Gemeinden von diesen übernommen werden. Beim zweiten Hilfspaket handelt es sich vorwiegend um Einnahmenvorschüsse. Ein drittes Paket ist dringend notwendig, damit die Gemeinden so wie bisher ihre Aufgaben wahrnehmen und die Dienste der Grundversorgung unverändert anbieten können und den unmittelbaren Lebensraum der Menschen gestalten und weiterentwickeln zu können.

Gibt es schon Projekte in den Gemeinden, die gefördert werden?

Im September läuft die nächste Ausschreibung. Wir haben in fünf niederösterreichischen Kernregionen – das sind 573 Gemeinden – politisch Interessierte eingeladen, zu Fragen der Versorgungssicherheit ihre Ideen einzureichen.

Aktuell beschäftigen uns neben den 3V auch Klimawandel, Pandemie und Krieg in Europa. Wie geht man in der AK mit diesen großen Themen um?

Für mich ist das eine Frage der Vorbereitung und daran arbeiten wir. Fatal wäre, wenn wir stillstehen und keine Pläne haben. Wir sehen natürlich, dass wir flexibel reagieren müssen und vieles nicht vorhersehbar ist. Doch wir können und müssen uns jetzt auf manche Situationen vorbereiten. Wird das Gas im Winter knapp, so wird das Instrument der Kurzarbeit wieder mehr heranzuziehen sein, um zu verhindern, dass die Zahl der Arbeitslosen steigt und Betriebe geschlossen werden müssen. Eine Steuerung vonseiten des Staates wird in manchen Bereichen unumgänglich werden. Ich würde mir wünschen, dass man etwa den Warenkorb für Grundnahrungsmittel regelt. Auch Wohnen wird für viele Menschen nahezu unleistbar –hier braucht es Steuerungsmechanismen, die überzogenen Teuerungen einen Deckel aufsetzen. Für uns geht es immer zuerst um die Frage: Wie geht es dem einzelnen Menschen, der als Wertschöpfungsträger, Wirtschaftsträger und Verantwortungsträger immer im Mittelpunkt der Maßnahmen stehen muss?

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