Eine solide Datengrundlage ist eine wesentliche Voraussetzung für eine evidenzbasierte Versorgungsplanung in der Gesundheitspolitik und für die Entwicklung patientenzentrierter Analysen. Während im stationären Bereich Diagnosedaten kodiert erfasst werden, ist dies im extramuralen Bereich noch nicht verpflichtend. Im Rahmen eines PRAEVENIRE Gipfelgesprächs in Alpbach diskutierte eine Expertenrunde, welche Schritte für dessen Einführung nötig wären. | von Mag. Wolfgang Panhölzl und Mag. Sophie Brunnhuber, BA
Bereits zu Beginn der Pandemie im März 2020 hat man versucht, Risikogruppen (Menschen mit Vorerkrankungen wie Diabetes, Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Nieren-, Leber- oder Lungenerkrankungen, Personen mit einem geschwächtem Immunsystem etc.) zu identifizieren. Wie viele Diabetikerinnen und Diabetiker gibt es in Österreich? Wie viele Menschen leiden an Long COVID?
Nach wochenlangen chaotischen Diskussionen hat das Gesundheitsministerium in Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage eingestanden, dass dem Ministerium und der Sozialversicherung keine näheren Informationen zu den Risikogruppen vorliegen. Behelfsmäßig habe der Dachverband auf Basis von Medikationsdaten – die jedoch unvollständig seien – 37.719 Personen über die mögliche Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe informiert.
Schätzungen statt Zahlen
Im Executive Report der Gecko-Kommission vom 5. September 2022 wird die Betroffenheit von Long-COVID auf Basis britischer und niederländischer Studien dargestellt. Daraus ergibt sich für Long-COVID eine Prävalenz von 12,7 Prozent der an COVID Erkrankten. Die massiven ökonomischen Auswirkungen werden auf Basis einer amerikanischen Studie beschrieben. Demnach sind in den USA ein Drittel aller Arbeitslosen aufgrund von Long COVID arbeitsunfähig. Kann man diese Zahlen auf Österreich übertragen?
Die Arbeiterkammer hat bei der GÖG (Gesundheit Österreich GmbH) eine Diabetes-Studie in Auftrag gegeben. Erste Ergebnisse der Studie wurden bei den PRAEVENIRE Gesundheitstagen in Alpbach am 20. August präsentiert. Demnach liegt die geschätzte Prävalenz für Diabetes in Österreich zwischen rund 730.000 und 880.00 Personen (8 bis 10 Prozent der Bevölkerung).
Der GÖG ist es jedoch – in enger Kooperation mit der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) – gelungen, den Unsicherheitsbereich massiv zu verkleinern. Aber wieso braucht es dafür eine Studie? Die Antwort darauf ist sehr einfach: Weil die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte nicht verpflichtet sind, die Krankheiten ihrer Patientinnen und Patienten nach einem einheitlichen System zu erfassen.
Möglichkeiten zur Diagnose-Codierung vorhanden - doch kaum genutzt
Österreich ist technisch und organisatorisch längst auf eine flächendeckende und damit verpflichtende Diagnose-Codierung vorbereitet. ICPC-2 (International Classification of Primary Care, Second edition) ist eine Klassifizierung, die von einer Arbeitsgruppe der Weltorganisation für Allgemein- und Familienmedizin (WONCA) seit über 40 Jahren speziell für die Primärversorgung und Hausarztmedizin erarbeitet und laufend erweitert wurde. Aber warum gibt es keine Verpflichtung für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte ICPC2 zu verwenden?
Experten-Workshop soll Aufschluss bringen
Um die Hintergründe zu diesem Thema auszuleuchten, hat die AK bei den Prävenire Gesundheitstagen in Alpbach am 21. August einen hochkarätig besetzten Workshop durchgeführt. Dr. Erwin Rebhandl, Leiter einer Primärversorgungseinrichtung (PVE) in Oberösterreich, berichtete, dass er bereits in den 1990er Jahren in einer Arbeitsgruppe zur Einführung der Diagnose-Codierung mit ICPC2 tätig war. Mit dem Hauptverband der Sozialversicherungsträger wurde ein fix und fertiger Gesetzesentwurf ausgearbeitet, der damals leider an den Bedenken der Ärztekammer gescheitert ist.
Aus Sicht der Patient:innenanwaltschaft ist die Diagnose-Codierung längst überfällig. Als Mitglied der ÖKOMED hat er Dr. Powondra, Arzt in einem Primärversorgungszentrum, eingeladen, über die Diagnose-Codierung mit ICPC2 zu referieren und hat eine gewisse Bereitschaft zur Diskussion wahrgenommen.
Chefarzt Dr. Krauter (ÖGK) berichtete von den Schwierigkeiten im Jahr 2020 für COVID-19 Risikogruppen zu identifizieren. Die Patientinnen und Patienten haben ein Recht auf eine Diagnose. Obmann Huss (ÖGK) verstärkte die Position seines Chefarztes: Ja, wir brauchen eine Diagnose-Codierung. Wir wissen nicht, wie viele Menschen wir mit welchen Erkrankungen in Österreich haben. Aus seiner Sicht ist die Diagnose-Codierung eine conditio sine qua non bei Verhandlungen mit der Ärztekammer über den Leistungskatalog am Ende des Jahres.
Auch die Statements von Prof. Clodi, Obmann der Österreichischen Diabetesgesellschaft), Prof. Zelko, OA Brath und M. Mayr gingen in dieselbe Richtung: die Diagnose-Codierung sei unbedingt notwendig. Prof. Riedl (Public Health – Schweiz) meinte dazu, nur wenn es eine Codierung gebe, könne die Allgemeinmedizin weiterentwickelt werden.
Ergebnisse und Ausblick nach dem Experten-Workshop
Leider hat keine Vertreterin bzw. kein Vertreter der Ärztekammer am Workshop teilgenommen. Die Wortmeldungen der Anwesenden können jedoch unisono als Plädoyer für die längst überfällige Einführung der verpflichtenden Diagnose-Codierung zusammengefasst werden. Durch COVID-19 und Long COVID hat das Thema wieder an Bedeutung gewonnen. Denn nur mit einer guten Datengrundlage ist eine gute Versorgung und ebenso eine Gesundheitspolitik möglich und machbar.
Diskussionsteilnehmende
Andreas Huss
Andreas Krauter
Helmut Brath
Reinhard Riedl
Bernhard Rupp
Erika Zelko
Sabine Röhrenbacher
Erwin Rebhandl
Wolfgang Panhölzl
Fabian Wächter
Digital dazugeschaltet
Martin Clodi
Gerald Bachinger
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