PRAEVENIRE Präsident Hans Jörg Schelling drückte bei der Vorstellung des Jahrbuches 2022/2023 aufs Tempo: die aktuellen Handlungsempfehlungen zur Reform des österreichischen Gesundheitswesens unter Mitarbeit von mehreren hundert Expertinnen und Experten liegen vor. Doch die Politik schreitet noch zu zögerlich und zu langsam voran, kritisierte Schelling. Rascher medizinischer Fortschritt, demografischer Wandel und zunehmende Personalprobleme rufen nach neuen Lösungen.
Wolfgang Wagner
Gesundheitsjournalist
Man müsse das österreichische Gesundheitswesen so reformieren, dass die Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt gestellt werden und die Versorgung für die entsprechenden Zielgruppen entsprechend gesteuert wird“, stellte Schelling, ehemals Chef des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger, seiner Keynote voran. Keine Frage, der Präsident der Initiative hat gerade auf diesem Gebiet lange Erfahrung. Der Ex-Finanzminister, ehemals auch federführend an der Gesundheitsreform ab 2009 mit neuem Zielsteuerungsmechanismus und Kostendämpfungspfad beteiligt, mit Ironie der Erfahrung: „Im Grunde begleiten mich die Themen Gesundheit, Gesundheitsreform und Gesundheitsversorgung seit meiner Kindheit. Und ich werde heuer 70.“
Politik auf dem Bremspedal?
Im Verein mit jeweils 500 bis 800 österreichischen Expertinnen und Experten erarbeite die PRAEVENIRE Initiative Gesundheit jeweils umsetzbare Vorschläge, um ein solidarisches und für die Menschen leistbares Gesundheitswesen zu erhalten und weiterzuentwickeln, sagte Schelling. Man habe für 2022/2023 mit dem Fokus Spital 2030 ein völlig neues Thema aufgenommen. „Die Gesundheitsversorgung beginnt bei den Hausärztinnen und Hausärzten und geht bis zum Krankenhaus. Das Unangenehme, das geschehen ist: Die Politik hat bisher sehr reserviert auf die Vorschläge reagiert.“ Hier fehle es an der Umsetzung, obwohl gerade PRAEVENIRE „sehr zielführende Vorschläge“ vorstelle und vorgestellt habe, die gut und einfach zum Nutzen aller umgesetzt werden könnten. Schelling: „Österreich ist kein Land der Revolution, es ist ein Land der Evolution. Wenn wir die in unserem Weißbuch vorgeschlagenen Schritte umsetzen, werden wir ein zukunftsfittes Gesundheitswesen haben.“ Man dürfe jedenfalls nicht nachlassen, der Politik zu sagen: „Setzt diese Maßnahmen endlich im Sinne der Patientinnen und Patienten um.“ Im Endeffekt gehe es ja um die Interessen jeder einzelnen Staatsbürgerin und jedes einzelnen Staatsbürgers. Der Präsident der PRAEVENIRE Initiative an das Publikum bei der Präsentation des Jahrbuches: „Die Quelle allen Geldes sind Sie, ob über Ihre Steuern oder Ihre Sozialversicherungsbeiträge.“ Und wenn zum Beispiel die Bundesländer Abgänge in ihren Spitälern aufwiesen, springe erst recht wieder der Staat mit Finanzmitteln zur Abdeckung ein.
Digitalisierung vorantreiben
An einer Entwicklung geht in einem auf die zukünftigen Herausforderungen vorbereiteten Gesundheitswesen kein Weg vorbei: an der Digitalisierung. Schelling: „Die Digitalisierung müssen wir über die Aufklärung der Bevölkerung zum Nutzen der Auswertung von Daten vorantreiben.“ Es könne ja nicht weiterhin so sein, dass beispielsweise im niedergelassenen Bereich durchgeführte bildgebende Untersuchungen (CT, MRT) – also die Bilder – nicht auch gleich an Spitäler weitergeleitet werden und es dadurch oft zu Doppeluntersuchungen kommt. Gerade im Umgang mit Daten und mit ihrer Auswertung habe das österreichische Gesundheitswesen in der COVID-19-Pandemie deutliche Schwächen gezeigt. So habe man zeitweise nicht gewusst, wie viele Betten in den österreichischen Krankenhäusern zur Verfügung standen. Ein großes Thema im PRAEVENIRE Jahrbuch: Gesundheitskompetenz und Prävention. „Die kostenlosen Vorsorgemaßnahmen und die Früherkennung müssen ausgebaut werden. Dies sei die beste Möglichkeit, die Zahl der in Gesundheit erlebten Lebensjahre zu vermehren. Hier schneidet Österreich im internationalen Vergleich (OECD) seit langem eher schlecht ab.
Wohnortnahe Versorgung
„Es ist eben so: Wir sind Ankündigungsriesen und Umsetzungszwerge“, meinte Schelling zum großen Anliegen der Verbesserung der Primärversorgung mit einer möglichst wohnortnahen Betreuung. „Wir hätten 72 Primärversorgungseinheiten geplant. In Wirklichkeit haben wir 40. Möge es gelingen, dass wir auf die 72 PVEs kommen.“ Ähnlich dringend ist laut den Vorschlägen der Expertinnen und Experten für ein zukunftssicheres Gesundheitswesen in Österreich der Ausbau der Früherkennungsprogramme. Der PRAEVENIRE Präsident: „Je früher eine Erkrankung erkannt wird, desto mehr kann man dagegen tun. Das ist die große Chance.
Und wenn eine Heilung nicht möglich ist, so kann man viele Krankheiten zumindest erträglicher machen. Die frühe Diagnose sollte in eine möglichst frühe Therapie übergeleitet werden.“ Ganz speziell wichtig sei das bei Krebserkrankungen. Auf der anderen Seite könnte zum Beispiel in der Orthopädie eine frühe Diagnose von Problemen und eine darauf folgende konservative Versorgung viele Operationen verhindern helfen. Schließlich gehe es auch um den Ausbau der Disease-Management-Programme in der Versorgung chronisch Kranker. Man sollte niedergelassene Ärztinnen und Ärzte durchaus auch zur Teilnahme verpflichten können, müsse ihnen aber den Mehraufwand entsprechend abgelten, betonte Schelling. Ein zentrales Thema seien auch die Gesundheitsberufe. In Österreich gebe es viele bestausgebildete Angehörige anerkannter Gesundheitsberufe. Doch man müsse das Berufsrecht und ihre Kompetenzen so adaptieren, dass sie auch ihre Ausbildung in der Praxis umsetzen könnten. Derzeit seien viele Kompetenzen auf die Ärzteschaft „zentralisiert“. Hier müsse eine Anpassung erfolgen.
Reformschritte in den Spitälern dringend notwendig
Rehabilitation sei immer wichtig, betonte Schelling. Man sollte aber auch quasi eine „Kontroll-Reha“ schaffen, um den Erfolg solcher Maßnahmen über längere Zeit zu garantieren. „Wer einen Herzinfarkt hat, wird im Spital hervorragend versorgt, dann kommt die Rehabilitation – und dann wird man als gesund entlassen. Ein Jahr später sind die Werte dann oft wieder genauso schlecht wie vor dem Herzinfarkt“, resümierte der PRAEVENIRE Präsident. In der Pflege sollte nach Möglichkeiten gesucht werden, die Angehörigen zu entlasten. Das könne auch über die zeitweise Bereitstellung von Pflegepersonal erfolgen, um zum Beispiel Urlaub und Erholung zu gewährleisten.
Ein neues und von der Politik dringend aufzugreifendes Thema: die Spitäler. „Wir haben in den Krankenhäusern einen enormen medizinischen Fortschritt, auf der anderen Seite einen enormen Alterungsprozess der Bevölkerung. Die Spitäler werden sich massiv ändern müssen“, meinte Schelling. Ein Grundproblem sei weiterhin die fragmentierte Finanzierung des Gesundheitswesens. Der PRAEVENIRE Präsident: „Wir werden es nicht schaffen, eine Finanzierung aus einem Topf sicherzustellen. Das wäre das Richtige. Aber man könnte doch aus einem Topf die niedergelassenen Ärzte und die Ambulanzen finanzieren – und aus einem anderen Topf den stationären Bereich.“ Damit könnten schon viele Probleme gelöst werden bzw. eine effizientere Steuerung im Gesundheitswesen erfolgen
Abonnieren Sie PERISKOP gleich online und lesen Sie alle Artikel in voller Länge.