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Visionen für ein innovatives und nachhaltiges Gesundheitssystem

Gruppenbild Innovation
© KRISZTIAN JUHASZ

Visionen für ein innovatives und nachhaltiges Gesundheitssystem

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Das österreichische Gesundheitssystem steht zwar im internationalen Vergleich (noch) gut da, dennoch mehren sich die Anzeichen, dass es dringend strukturelle Reformen braucht, um weiterhin seine Spitzenposition zu halten. Welche Schritte notwendig sind, um medizinische, wissenschaftliche Innovationen und eine hochwertige Routineversorgung mit einer adäquaten und langfristigen Finanzierung zu verknüpfen, diskutierte eine hochkarätige Runde bei den 8. PRAEVENIRE Gesundheitstagen im Stift Seitenstetten.

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Rainald Edel, MBA

Periskop-Redakteur

Innovation ist der Motor im Gesundheitssystem, durch den es gelingt, viele noch bis vor wenigen Jahren letale und unheilbare Erkrankungen erfolgreich zu behandeln. So gibt es beispielsweise seit wenigen Jahren eine Behandlungsmöglichkeit für Kinder mit Spinaler Muskelatrophie (SMA). „In Österreich haben wir ein Neugeborenen-Screening. Babys mit der Diagnose SMA werden in den ersten drei Monaten behandelt, womit das Kind eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit auf eine ganz normale Entwicklung und Lebenserwartung hat“, erklärt Susanne Erkens-Reck, MSc, General Manager Roche Austria, in ihrer Keynote zur diesem PRAEVENIRE Gipfelgespräch in Seitenstetten.

Innovationen sind absolut wichtig. Die Überlegung, wie Patientinnen und Patienten rascher zu Innovationen kommen, findet auch Niederschlag in der neuen EU-Gesetzgebung“, schildert die Gesundheitsexpertin Prof. DI Dr. Christa Wirthumer-Hoche, die viele Jahre das Geschäftsfeld Medizinmarktaufsicht der AGES leitete und bis 2022 Österreich im Verwaltungsrat der Europäischen Arzneimittelagentur EMA vertreten hat. Bis zu einem gewissen Grad, so die Expertin, ließe sich der Zulassungsprozess durch Bürokratieabbau noch effizienter gestalten, wobei man in letzter Zeit ohnehin schon sehr schlanke, schnelle Prozesse implementiert habe. Der zweite Punkt, durch den sich der Zugang zu Innovation noch beschleunigen ließe, liege in der digitalen Transformation. Darunter fallen sowohl die Schaffung als auch das Nutzen von Daten. „Wenn wir im Zulassungsverfahren zunehmend sogenannte Real World Data nutzen könnten, hätten wir ein höheres Wissen und könnten rascher agieren“, so Wirthumer-Hoche. Durchaus vorstellbar für sie wäre, dass man dann in Zulassungsstudien beispielsweise den Placeboarm durch Real World Data ersetzen könnte. „Der Wunsch der EU-Kommission nach schnellerer, besserer Versorgung und Zugang für die gesamte EU ist wünschenswert. Nur die Maßnahmen, die derzeit diskutiert werden, bergen das Risiko, dass wir in Österreich, die einen schnellen Zugang haben, ausgebremst werden und Patientinnen und Patienten auf innovative Behandlungen dann plötzlich warten müssten“, warnt Erkens-Reck.

Den Medical Need abdecken

„Die Goldgräberzeit für Arzneimittelentwicklung ist vorbei“, konstatiert Wirthumer-Hoche, wobei es noch genügend Felder gäbe, in denen eine Therapieentwicklung dringend notwendig wäre. Im Bereich der Seltenen Erkrankungen sind nur etwa fünf Prozent mit einer Arzneimitteltherapie behandelbar. Ein weiteres Gebiet, in dem es noch wichtig wäre, Forschungs- und Entwicklungsarbeit zu leisten, sind neue innovative Antibiotika. „Ein großes Problem stellt die Antibiotikaresistenz dar, wodurch bakterielle Infektionen nicht mehr in allen Fällen heilbar sind, weil bewährte Mittel nicht mehr greifen. Das sind Aufgabengebiete, wo Innovation absolut essenziell ist“, so Wirthumer-Hoche. Im Bereich der Innovationen müsse daher die Politik Anreize setzen, dass auch in Nischenbereichen geforscht wird und nicht nur in Indikationsgebieten, die einen sehr breiten Nutzen und damit einen sicheren Return of Investment versprechen. „Wir müssen generell das System überdenken und definieren, was von den Universitäten in der Grundlagenforschung geleistet werden soll, um eine entsprechende Basis für die Pharmaindustrie zu weiterer Entwicklung zu schaffen, so Wirthumer-Hoche. Auch müsse vermehrt darauf geachtet werden, welche Wirkstoffe eventuell in anderen Indikationsgebieten genutzt werden können. „Bei aller Innovation, zur Erhaltung der Gesundheitssysteme müssen wir darauf schauen, dass die Generika ausreichend verfügbar sind. Denn wir sehen, dass die Preise für Generika in den Keller gehen und die Preise für Innovative extrem hoch sind. Diese Schere geht immer mehr auseinander, was zu Folge hat, dass Generika vom Markt verschwinden, dass wir erhöhte Lieferengpässe haben und dass das zu einer Versorgungsproblematik führt. Für ein vitales Gesundheitssystem ist die Innovation notwendig. Aber auch der Erhalt dessen, was wir schon geschafft haben, damit die Gesundheitsversorgung vorhanden ist“, so Wirthumer-Hoche.

Auch Erkens-Reck sieht das so: „Gut funktionierende Generika sind Teil des gesamtgesellschaftlichen Innovationszyklus.“ Typischerweise scheitern neun von zehn Versuchen, ein neues Medikament auf den Markt zu bringen, an irgendeinem Punkt in der Entwicklung oder Zulassung. In der Folge ziehen sich die meisten Unternehmen aus diesem Bereich zurück, denn nur wenige große Konzerne können es sich leisten, an dem Thema dranzubleiben und weiter zu forschen und zu investieren. „Nur in der relativ kurzen Patentzeit und solange das Produkt die beste Behandlung am Markt darstellt, hat man die Chance auf hochpreisige Verkäufe. Danach steht es für kleines Geld zur Verfügung“, so Erkens-Reck. Dennoch sei man stolz, mit 32 ehemals von Roche entwickelten Produkten auf der Liste der Essential Medicines vertreten zu sein, die nun von Biosimilar- und Generikaherstellern für kleines Geld Patientinnen und Patienten auf der ganzen Welt zur Verfügung gestellt werden. „Hier ist ein Punkt in unserem Gesundheitssystem, wo wir ungute Interessensvermischungen haben. Wo ungewollt verkehrte Anreize gesetzt werden“, mahnt Erkens-Reck. Denn im Gegensatz zu anderen Ländern mache der Einkäufer zugleich auch die medizinische und ökonomische Nutzenbewertung. „Wir schaffen hier einen schwierigen Interessenskonflikt. In vielen anderen Ländern ist das getrennt. Da wird die medizinische Nutzenbewertung von den besten medizinischen Fachexpertinnen und -experten gemacht und das ist getrennt vom ökonomischen Nutzen“, so Erkens-Reck, die in dieser Kritik auch Unterstützung von Wirthumer-Hoche erhält: „Ich habe immer klar festgehalten, dass es eine Firewall geben muss zwischen der Bewertung des medizinischen Nutzens, der Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit und der Beurteilung der wirtschaftlichen Aspekte“.

Die ethische Komponente bei der Bewertung von Therapien bringt Mag. Karl Lehner, MBA, Geschäftsführer der Oberösterreichischen Gesundheitsholding, in die Diskussion ein: „Wenn man viel Geld für wenige Fälle einsetzt, das man auch für sehr viele Menschen einsetzen könnte, haben wir ein ethische Grundsatzfrage.“  Hierüber brauche es eine breite gesellschaftliche Diskussion, aus der er sich Antworten auch vor dem Hintergrund der Nutzen-Debatte erwarte. Notwendig sei auf jeden Fall eine langfristige Finanzierung. Dies können auch, wie aktuell im Finanzausgleich diskutiert, ein eigener Topf für besonders teure Therapien sein. Nachteil einer solche Lösung sei allerdings: Ist der Topf ausgeschöpft, gibt es nichts mehr. „Aber es ist aus meiner Sicht schon ein Fortschritt, wenn man dafür eine österreichweite Finanzierungsgrundlage schafft“, so Lehner.

Gesamtstrategie gefordert

Innovative Behandlungen stellen eine erhebliche finanzielle Belastung für das Gesundheitssystem dar, auf die das heutige Gesundheitssystem nur ungenügend vorbereitet ist. Notwendig ist deshalb eine Reform, die es möglich macht, den Spagat zwischen kostenintensiven innovativen Therapien und einer hochwertigen effizienten Routineversorgung zu schaffen. Wurden beispielsweise früher alle komplexen Behandlungen im Spitalssetting gemacht, wäre das heute nicht mehr notwendig. Dennoch passiere es, dass gewisse Leistungen, die an sich State-of-the-Art-Behandlungen wären, im niedergelassenen Bereich nicht angeboten werden und Patientinnen und Patienten deshalb eine Spitalsambulanz aufsuchen müssen, die dann zur Therapievorbereitung die Voruntersuchungen des niedergelassenen Bereichs wiederholen muss. Es müsse endlich mit der „Herumschieberei“ zwischen Bundesländern, Trägerorganisationen und Sektoren aufgehört werden, appelliert Lehner. Das Thema könne nicht durch einen Spitalsträger oder ein Bundesland geregelt werden, sondern es bedarf einer übergreifenden Ordnung. „Die Behandlung muss sektorenübergreifend sein. Der Beton, den wir zwischen den Sektoren haben, hindert uns. Das gilt auch für die digitale Welt, wo wir uns ebenfalls abschotten“, so Lehner, der einen Lösungsansatz auch in einer höheren Transparenz sieht, denn diese würde Sektorgrenzen automatisch einreißen.

„Im Zuge einer Reform braucht es deshalb dringend eine Gesamtstrategie, die aber auch die Digitalisierung berücksichtigen muss“, mahnt Dr. Franz Leisch, CDO des Vereins PRAEVENIRE. Ähnlich sieht es auch Angelika Widhalm, Vorsitzende des Bundesverbands Selbsthilfe Österreich (BVSHOE): „Die sogenannte Patient-Journey ist ein Chaos und Wirrwarr und die derzeitige Situation kann man nur als ungenügend und patientenfeindlich beurteilen. Was wir brauchen, sind rasche Diagnosen. Mehrfachuntersuchungen, wie sie häufig bei Übertritten vom extramuralen in den intramuralen Bereich vorkommen, sind nicht nur eine Zumutung für Patientinnen und Patienten, sondern bergen auch die Gefahr, dass etwas falsch oder unzureichend erfasst wird. Daher müssen alle Untersuchungsergebnisse und Behandlungen in ELGA erfasst werden.“ Auch die Unterschiede in Diagnosemöglichkeiten und Therapie zwischen den Bundesländern gehören dringend vereinheitlicht und optimiert. „Es kann nicht sein, dass eine Patientin, ein Patient in Niederösterreich andere Chancen in den Versorgungsmöglichkeiten hat als zum Beispiel jemand aus Vorarlberg oder Wien. Denn wer krank oder verunfallt ist, braucht entsprechende medizinische Versorgung“, schließt Mag. Michael Prunbauer von der NÖ Patienten- und Pflegeanwaltschaft an die Argumentation seiner Vorrednerin an. Durchaus kritisch beurteilt er das Eigenlob, in Österreich eines der besten Gesundheitssysteme der Welt zu haben. „Es hängt davon ab, wo man hinschaut. Das mag in der Notfallversorgung und der Krebstherapie stimmen, ist aber bei den Seltenen Erkrankungen schon nicht mehr der Fall. Wenn wir in die Richtung der Suchtmittelprävention gehen oder die psychische Versorgung von Kindern und Jugendlichen, sind wir in diesen Bereichen sogar nicht einmal mehr im europäischen Mittelfeld“, mahnt Prunnbauer. Während aus seiner Sicht Innovation im Behandlungsbereich stattfindet, habe sich im Bereich der Institutionen nichts verändert. „Unser Ziel muss doch sein, wenn wir ein nachhaltiges Gesundheitssystem sowohl ökologisch, ökonomisch als auch hinsichtlich seiner Resilienz gegenüber Pandemien haben wollen, dass Menschen diese Versorgungsstrukturen so wenig wie möglich brauchen“, so Prunnbauer.

Innovative Ideen auch im Umgang mit Menschen

„Wir erleben gerade einen Paradigmenwechsel, der weder in den Berufsgruppen noch in der Politik angekommen ist. So habe ich zu meinem Berufseinstieg vor 40 Jahren beispielsweise noch 60 Stunden gearbeitet. Da spielt heute niemand mehr mit“, schildert Josef Zellhofer, Vorsitzender der ÖGB/ARGE- Fachgruppenvereinigung für Gesundheits- und Sozialberufe. Dennoch werde noch immer an einem System festgehalten, das vor mehr als 100 Jahren ausgedacht wurde und vielleicht im vorigen Jahrhundert noch tauglich war, aber jetzt völlig überholt sei. Die Frage Personalbedarf, Personalbedarfsberechnungen könne man, mangels geeigneter Daten, nur ungefähr schätzen und sei zudem von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Ein weiterer Bereich, der verloren gegangen sei, ist die Ausbildung.

„Wir haben auch eine Umkehr auf dem Personalmarkt. Bis vor zehn Jahren haben wir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgewählt, jetzt suchen sich die Leute uns aus“, schildert Lehner. Ein Trend, den es generell am Arbeitsmarkt gibt. Deshalb werde die Oberösterreichische Gesundheitsholding auch die Ausbildung weiter forcieren. „Wir haben jedes Jahr mehr Ausbildungsplätze, sowohl auf der Fachhochschule oder in unseren Schulen. Wir müssen rekrutieren, wen wir bekommen können“, so Lehner.

Idealtypisch steht die Patientin, der Patient im Mittelpunkt des Gesundheitssystems – so die Theorie. Tatsächlich gewinnt man aber den Eindruck, dass es viel mehr um die Interessen aller anderen Player im Gesundheitssystem geht. „Auf die Stimme und die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten wird oftmals verzichtet“, bemängelt Widhalm. Dieser Anspruch ende in Österreich immer in einer Kostenfrage, ergänzt Zellhofer: „Das kann es nicht sein. Die Politik muss sich entscheiden, was sie möchte.“ Er wünsche sich, dass das System im 21. Jahrhundert ankommt unter Einbeziehung aller Player. „Ein großer Wunsch wäre, dass sich die großen Player im Gesundheitssystem – da gehören auch die Patientinnen und Patienten dazu – zusammensetzen und definieren, was das Gesundheitssystem überhaupt leisten soll und zu welcher Qualität“, appelliert auch Prunnbauer zum Schluss für eine gemeinsame Strategie, die von allen Beteiligten im Gesundheitssystem entwickelt und getragen wird.

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