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Darmgesundheit – mehr Awareness, weniger Tabuisierung

SHUTTERSTOCK (2), Peter Provaznik (6), Bechyna, Beigestellt, Ziebolza

Darmgesundheit – mehr Awareness, weniger Tabuisierung

SHUTTERSTOCK (2), Peter Provaznik (6), Bechyna, Beigestellt, Ziebolza

Ziel der PRAEVENIRE Initiative „Darmgesundheit 2030“ ist eine allgemeine Bewusstseinssteigerung für Darmerkrankungen – um die Versorgung und Gesundheit Betroffener zu verbessern und das Gesundheitssystem zu entlasten. Expertinnen und Experten diskutierten die relevanten Handlungsfelder mit Fokus auf den Bereichen darmkrebsvorsorge, chronisch entzündliche Darmerkrankungen (CED), Reizdarmsyndrom und Mikrobiomforschung. | von Lisa Türk, BA

In Österreich leiden etwa 40.000 Menschen unter den Symptomen chronisch entzündlicher Darmerkrankungen. Jährlich kommen etwa 1.500 bis 2.000 Neuerkrankungen hinzu. Darmerkrankungen und die damit einhergehenden Beschwerden sind oftmals mit Scham behaftet und gelten daher nach wie vor als tabuisiert. Sie betreffen zudem häufig junge Menschen in der produktivsten Phase ihres Lebens, die von Familien- und Karriereplanung geprägt ist, die von einer derartigen Erkrankung allerdings stark beeinträchtigt werden kann. Im Rahmen der Initiative „Darmgesundheit 2030“ möchte der Verein PRAEVENIRE wesentliche Optimierungspotenziale aufzeigen, um die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern und relevante gesundheitssystemische Schritte in die Wege zu leiten.

Ein staatlich organisiertes Darmkrebs-Vorsorgeprogramm ist in Österreich längst überfällig.

Darmkrebsvorsorge - Status quo

Entzündliche Darmerkrankungen sind mit einem erhöhten Darmkrebsrisiko verbunden. Pro Jahr wird bei etwa 2.500 Österreichern und 1.900 Österreicherinnen Darmkrebs diagnostiziert, ca. 3.000 Personen sterben daran. Die wirksamste Vermeidung von Darmkrebs basiert auf einer Darmspiegelung (Koloskopie). Bemühungen, die Darmkrebsprävention als wichtigen Schritt der Früherkennung und frühen Diagnose in Form einer standardisierten und nicht nur opportunistischen Vorsorge-Koloskopie voranzutreiben, bestehen bereits seit vielen Jahren. Dennoch herrscht in Österreich nach wie vor akuter Handlungsbedarf im Bereich der flächendeckend einheitlich strukturierten Darmgesundheitsvorsorge. „Ein staatlich organisiertes Koloskopie-Vorsorgeprogramm ist längst überfällig. Das Thema scheint in seiner Dringlichkeit noch nicht in der breiten Öffentlichkeit angekommen zu sein“, warnte Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Gschwantler, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Gastroenterologie und Hepatologie (ÖGGH). Prim. Univ.-Prof. Dr. Rainer Schöfl (ÖGGH) ergänzte insbesondere die Relevanz von Beteiligung und Compliance seitens Patientinnen und Patienten. „Wir werden beim Vorsorgethema nicht vorankommen, wenn die Menschen nicht mitmachen. Dieses Problem müssen wir lösen, hier braucht es mehr Awareness.“ Als problematisch bezeichnete er zudem die in Österreich uneinheitliche Versorgungsdichte und den teils hochschwelligen Zugang zur Darmkrebsvorsorge, der in einzelnen Bundesländern auf lange Wartezeiten auf eine Koloskopie (in Oberösterreich sind es aktuell acht Monate!) zurückzuführen ist.

Ergebnisse aus der Mikrobiomforschung müssen auf standardisierte Weise in die klinische Anwendung übergehen.

Früherkennung von CED vorantreiben

Auch Univ.-Prof. Dr. Herbert Tilg, Direktor der Universitätsklinik für Innere Medizin I, Medizinische Universität Innsbruck und Past President der ÖGGH, verdeutlichte die Notwendigkeit, Früherkennung und somit frühzeitige Diagnose im Bereich der CED voranzutreiben: „Obgleich der Zugang zu entsprechenden Therapeutika in Österreich gut ist und zukunftsweisende Entwicklungen bereits in der Pipeline sind, vergeht nach wie vor zu viel Zeit bis zur Diagnose. Wir brauchen nicht nur bei der Bevölkerung, sondern auch bei der gesamten Ärzteschaft eine gesteigerte Awareness.“ Auch Univ.-Prof. Dr. Alexander Moschen, PhD, Vorstand der Universitätsklinik für Innere Medizin, unterstrich die Relevanz der zeitlichen Komponente und somit Früherkennung im Bereich der CED: „Eine CED führt zu einer Schädigung des Gastrointestinaltraktes, dessen Zustand mit anhaltender entzündlicher Aktivität immer schlimmer wird.“ Auch das Reizdarmsyndrom sei ein weit verbreitetes Problem, das aktuell „keine Stimme im Land“ habe, wie Tilg erklärte. „Etwa 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung leiden unter einem Reizdarmsyndrom, das zu starken Beeinträchtigungen und teils hohem Leidensdruck führen kann und daher gesamtgesellschaftlich mehr Beachtung, vor allem aber Entstigmatisierung benötigt.“

Mikrobiom als eigenes Organ betrachten

Ein weiteres Handlungsfeld der Darmgesundheit befasst sich mit dem Einfluss des Mikrobioms auf die Gesundheit des Menschen. „In den letzten 15 bis 20 Jahren hat unser Wissen über die Zusammensetzung des Darmmikrobioms bei verschiedenen Erkrankungen massiv zugenommen. Generell haben wir in Österreich sehr gut funktionierende Forschungsinstitutionen, die bereits einiges in diesem Bereich weitergebracht haben“, erläuterte Assoz. Prof. Priv.-Doz. Dr. Vanessa Stadlbauer-Köllner, MBA, Leiterin der Forschungseinheit „Translationale Mikrobiommodulation“ an der klinischen Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie an der MedUni Graz. „Wir wissen bereits aus Studien, dass gewisse Medikamente Einfluss auf das Mikrobiom haben, wodurch es entweder zu einer verstärkten oder abgeschwächten Arzneimittelwirkung kommen kann“, so die Expertin. Dieses Wissen müsse bei der Arzneimittelentwicklung berücksichtigt werden und letztlich in die klinische Anwendung übergehen.

In keinem anderen Bereich ist der Faktor Zeit so entscheidend wie in der Darmkrebsvorsorge und -früherkennung.

„Im Zusammenhang mit Medikamenten und Therapieformen, die das Mikrobiom verändern (Anmerkung: z.B. Prä- und Probiotika sowie Stuhltransplantation) braucht es eine Anpassung der regulatorischen Gegebenheiten. Es braucht neue Wege, wie wir klinische Studien bewerten, auf Sicherheit und Effektivität überprüfen und letztlich in die Praxis umsetzen.“ Zusätzlich sei für eine Integration der Forschungsergebnisse in die Praxis eine Definition von Normwerten im Hinblick auf eine standardisierte Mikrobiomanalyse erforderlich. „Neben einer Investition in die Forschung benötigen wir also Änderungen auf politischer und gesellschaftlicher Ebene, um letztendlich eine bessere Diagnostik und Prognoseabschätzung gastrointestinaler Krankheitsbilder bieten und das vorhandene therapeutische Potenzial möglichst optimal nutzen zu können.“

Interdisziplinarität und Netzwerke stärken

Um Forschungsergebnisse zur Verfügung zu stellen, braucht es – so die einhellige Meinung der Expertinnen und Experten – spezialisierte Zentren und eine Stärkung der Netzwerke durch überregionale und interdisziplinäre Kooperationen, insbesondere zwischen niedergelassenem und spezialisiertem Bereich. „CED sind interdisziplinäre Erkrankungen, für die es ausgewiesene Zentren und die Mitarbeit aller beteiligten Gesundheitsberufe braucht“, betonte Moschen und plädierte für mehr Fortbildungen sowie Schulungen zugunsten einer optimalen „Filterung und Weiterleitung“ von Patientinnen und Patienten. Ein niederschwelliger und strukturierter Zugang zu spezialisierten Zentren würde laut Moschen zudem eine bessere Ausschöpfung medikamentöser Therapieoptionen gewährleisten und auch die Nachsorge optimieren. In puncto Versorgungszugang kommen auch die Apotheken ins Spiel. „Zahlreiche Betroffene vertrauen sich der Apothekerin, dem Apotheker an. Dank regelmäßiger Fortbildungen können wir in den öffentlichen Apotheken sehr gut und niederschwellig informieren. Auch beim Screening sind wir kompetent, was wir nicht zuletzt während der Coronapandemie bewiesen haben“, so Mag. pharm. Gunda Gittler, MBA, aHPh, Leiterin der Anstaltsapotheke und öffentlichen Apotheke der Barmherzigen Brüder in Linz. Im Krankhausbereich und am Übergang vom intra- in den extramuralen Bereich verwies Gittler auf die bedeutende Rolle der klinisch-pharmazeutischen Betreuung – vor allem im Hinblick auf Polypharmazie, medikamentöse Wechselwirkungen und damit auch das Mikrobiom. Wesentlich sei zudem, sicherzustellen, dass ausschließlich hochwertige Mikrobiom-Medikamente in den österreichischen Apotheken angeboten werden. „Leider fehlt es in diesem Bereich an entsprechenden Studien, um Daten und Qualität der Produkte evidenzbasiert zu überprüfen“, so Gittler.

Patientensicht

Die Bedeutung der multiprofessionellen Zusammenarbeit betonte auch Evelyn Groß, Präsidentin der Selbsthilfeorganisation Österreichische Morbus Crohn/Colitis ulcerosa Vereinigung (ÖMCCV). „Derzeit beträgt der Zeitraum vom Auftreten erster Symptome bis zur Diagnosestellung oft mehrere Jahre.“ Ursächlich sei laut Groß zum einen die fehlende Motivation, Vorsorgekoloskopien wahrzunehmen und zum anderen eine zögerliche bis fehlende Überweisung der Betroffenen an Spezialistinnen, Spezialisten. „Wir müssen in der Öffentlichkeit und bei Hausärztinnen, Hausärzten publik machen, dass spezialisierte Zentren wesentliche Anlaufstellen für eine optimale Versorgung sind.“ Hinsichtlich Diagnosestellung und Verlaufskontrolle forderte Groß eine österreichweite Leistungsharmonisierung, etwa in Form einer Kostenübernahme der Bestimmung des fäkalen Calprotecins (Anmerkung: Marker der Entzündungsaktivität im Darm) seitens der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK).

Erkrankungen im Verdauungstrakt oder im Darmbereich sind wohl die häufigsten chronischen Erkrankungen des Menschen. Und wenn wir von chronischen Erkrankungen sprechen, dann sprechen wir von Morbidität und auch Mortalität.

Erfolgsmodelle ausrollen

„Wir wollen alle Betroffenen bestmöglich und flächendeckend versorgen – das gilt für Patientinnen, Patienten mit CED genauso wie für jene, die unter einem Reizdarmsyndrom leiden“, fasste a.o. Univ.-Prof. DI Dr. Harald Vogelsang, Facharzt für Gastroenterologie und Hepatologie, CED-Experte zusammen. Um Patientinnen und Patienten überhaupt einmal sichtbar zu machen, wurde bereits im Zuge der Plattform „Darm Plus“ ein „CED-Atlas“ entwickelt – derartige Instrumente seien nun auszubauen und auch die Mikrobiomforschung sei zentral zu fördern, um letztlich eine möglichst schnelle Diagnose zu erhalten und effektive Therapien rasch einzuleiten. Den Faktor Zeit hob auch Manfred Brunner, Leitung Landesstelle Vorarlberg der ÖGK hervor. „In keinem anderen Bereich ist die Zeit so entscheidend wie in der Darmkrebsvorsorge, die nicht nur eine Präventions-, sondern auch eine Früherkennungsmaßnahme ist.“ Bereits seit 2007 sei man mit dem Vorarlberger Darmkrebsvorsorgeprogramm erfolgreich, wie Evaluierungen zeigen. Derartige Best-Practice-Modelle gelte es nun flächendeckend auszurollen. Laut Dr. Silvia Bodi, Stv. Direktorin Medizin und Pflege, Leitung Strategie und Qualität Medizin, NÖ Landesgesundheitsagentur, sei es zudem ganz wesentlich, die Darmkrebsvorsorge auch in den österreichischen Betrieben zu implementieren. „Auf diese Weise wird zum einen der niederschwellige Zugang gefördert, zum anderen fungieren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Unternehmen als Multiplikatoren zugunsten einer allgemeinen Enttabuisierung der Darmkrebsvorsorge.“ Der Relevanz von standardisierten Vorsorgeprogrammen und zusätzlichen Parallelstrukturen schloss sich auch Gschwantler an. „Wir müssen die Menschen mithilfe unterschiedlichster bereits vorhandener Strukturen dazu motivieren, die Vorsorge ernst- und wahrzunehmen.“ Ein nationales Koloskopieprogramm und Einzelinitiativen schließen einander keinesfalls aus, wie Brunner betonte. Er plädierte für die Erteilung eines Auftrags seitens Bundesgesundheitskommission an die Länder, Sozialversicherung und Ärztekammer, ein Vorsorgeprogramm gemeinsam auf die Beine zu stellen. Mag. Martin Schaffenrath, MBA, MBA, MPA, Verwaltungsrat der ÖGK, betonte insbesondere den positiven ökonomischen Aspekt, der mit einem strukturierten Darmkrebsvorsorgeprogramm einhergeht, unterstrich allerdings abschließend wie folgt: „Natürlich geht es nicht nur darum, Gesundheitskosten zu sparen. Vielmehr geht es darum, das Leid der Betroffenen zu minimieren und ihnen möglichst viele gesunde Lebensjahre zu ermöglichen – und da hat Österreich im internationalen Vergleich bekanntlich Aufholbedarf.“

Die Teilnehmenden am PRAEVENIRE Gipfelgespräch

1 Silvia Bodi
2 Manfred Brunner
3 Gunda Gittler
4 Evelyn Gross
5 Michael Gschwantler
6 Alexander Moschen
7 Martin Schaffenrath
8 Rainer Schöfl
9 Vanessa Stadlbauer-Köllner
10 Herbert Tilg
11 Harald Vogelsang 

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