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Ein gutes System weiterentwickeln

Krisztian Juhasz

Ein gutes System weiterentwickeln

Krisztian Juhasz

„Aus der Vergangenheit lernen und die Zukunft gestalten“ – Das ist das Leitmotiv anlässlich der Vorstellung der aktuellen Version 2021/2022 des PRAEVENIRE Weißbuch „Gesundheitsstrategie 2030“. „Die älter werdende Bevölkerung und der Fortschritt in der Medizin sind die zentralen Herausforderungen“, sagte PRAEVENIRE-Präsident Dr. Hans Jörg Schelling bei der Präsentation des Dokuments und weiterer Aktivitäten der Initiative.

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Wolfgang Wagner

Gesundheitsjournalist

Unsere bisherigen Aktivitäten haben gezeigt, dass ein großes Interesse daran besteht, ein gutes Gesundheitssystem weiterzuentwickeln. Die zentralen Ziele liegen darin, dass wir ausschließlich die Patientinnen und Patienten und deren Versorgung in den Mittelpunkt stellen. Es ist für uns keine Aufgabenstellung, Partialinteressen oder Anliegen einzelner Interessensgruppen in den Vordergrund zu stellen. Wenn man das Gesundheitssystem weiterentwickeln will – und das ist dringend erforderlich – dann muss man nachfragen, wohin entwickelt sich die Bevölkerung, wohin entwickeln sich die Patientenströme“, erklärte PRAEVENIRE-Präsident Hans Jörg Schelling. „Wie können wir die Menschen effizient, bestmöglich und wohnortnah versorgen?“
Um das zu erreichen, habe sich PRAEVENIRE bemüht, alle Beteiligten an einen Tisch zu holen. Alle sollten mitgestalten können. „Wir versuchen, dass möglichst viele an einem Strang ziehen. Und natürlich reicht es nicht aus, wenn viele an einem Strang ziehen, sie sollten auch noch in die gleiche Richtung ziehen“, betonte Schelling.
Es gehe darum, große Herausforderungen zu bewältigen. „Das eine ist die älter werdende Bevölkerung, und das andere ist der Fortschritt der Medizin. Das sind die zentralen Herausforderungen. Die Kosten im Gesundheitswesen werden nicht sinken, sie werden steigen. Das einzige, was man tun kann, ist, die Kostensteigerungen unter Kontrolle zu bringen.

Die älter werdende Bevölkerung und der medizinische Fortschritt sind die beiden großen Herausforderungen. Meine Sorge ist, dass sich die Politik dem Reformbedarf nicht widmet.

Der medizinische Fortschritt ist gigantisch. Was wir heute medizinisch leisten können und was wir vor zehn Jahren medizinisch nicht leisten konnten, das ist gewaltig“, fügte Schelling hinzu. Das sollte eben zum Wohle von Patientinnen und Patienten genützt werden. Wie der ehemalige Chef des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger und spätere österreichische Finanzminister betonte, müssten diese Voraussetzungen schnell in einen dringend benötigten Strategiewechsel münden: „Wir müssen von der Reparaturmedizin zur Vorsorgemedizin kommen. Das ist ein ganz entscheidender Punkt, weil die Anzahl der chronischen Erkrankungen permanent ansteigt. Manche kann man vielleicht verhindern, viele aber kann man durch Vorsorge lindern und die Verläufe so gestalten, dass ein selbstbestimmtes Leben möglich ist.“ Dazu gehöre natürlich auch eine wohnortnahe Primärversorgung durch den niedergelassenen Bereich. Insgesamt seien für die aktuelle Version des PRAEVENIRE Weißbuchs 87 Forderungen bzw. Handlungsempfehlungen formuliert und den Kapiteln des Dokuments vorangestellt worden. Die wichtigsten, so Schelling:

  • Neue Formen der Versorgung. „Die Primärversorgungszentren kommen langsam ins Rollen.“

  • Finanzierung: „Die ,Finanzierung aus einem Topf‘ hat bereits einen ,Bart‘. Wir haben als Zwischenschritt vorgeschlagen, dass ein Topf ausschließlich für den intramuralen Bereich festgelegt werden soll, ein zweiter Topf für die extramurale und ambulante Versorgung.“ In Zukunft könne man damit auch die extramurale/ambulante Versorgung gemeinsam planen.

  • Vermehrte Nutzung digitaler Tools. „Da gibt es viele Möglichkeiten von der Teleordination bis zur Entwicklung von Boards, wo man Wissen bündelt und abrufen kann.“

  • Mehr Disease Management Programme für chronisch Kranke.

  • Neue Ordnung des Bereichs der Berufsrechte, wo darüber diskutiert wird, was welcher Berufsstand tun darf. „Wir müssen neue Berufsrechte diskutieren.“

  • „Eine Forderung, wenn man das Ziel ,weg von der Reparaturmedizin, hin zur Präventionsmedizin‘ ernst nimmt, ist, dass man den Mutter-Kind-Pass dramatisch ausweitet zu einem lebensbegleitenden Präventionspass, zumindest bis zum 18. Lebensjahr.“

Ein generelles Problem, laut dem PRAEVENIRE-Präsidenten: „Meine Sorge ist, dass die Politik wieder nahezu keine Reaktion zeigt und sich dem zukünftigen Reformbedarf im Gesundheitswesen nicht widmet.“ Man sei noch immer Pandemie-gesteuert und Pandemie-erschöpft. Dabei gebe es weiterhin ganz massiven Aufholbedarf. Man kenne dasselbe Problem aus der Pflege. „Jeder weiß, dass wir den Bereich der Pflege angehen werden müssen, weil das so, wie das jetzt organisiert ist, nicht tragfähig ist. Und trotzdem geschieht wenig. Die zuständigen Organisationen sagen, es sei bereits ,Fünf nach Zwölf‘.“ In der Politik habe es immer geheißen: „Du kannst mit Gesundheit und Pflege jede Wahl verlieren, aber keine gewinnen.“ Das dürfe nicht so bleiben. Die Menschen würden ein Handeln durchaus verstehen. Jeder wolle ja „State-of-the-Art“ versorgt werden.

PRAEVENIRE für verstärkte Primärversorgung

“PRAEVENIRE setzt sich seit seinem Beginn für die Stärkung der Primärversorgung ein. Wir sind ja im Bereich dieser Primärversorgung eher als schwach entwickeltes Land zu bezeichnen. Eine Stärkung der Primärversorgung bedeutet eine wohnortnahe Versorgung mit einer großen Bandbreite im medizinischen, pflegerischen und therapeutischen Sinn“, betonte Dr. Erwin Rebhandl (AMplus), auch Co-Gründer eines Primärversorgungszentrums in Oberösterreich.

Man kann Allgemeinmedizin nur dort lernen, wo sie passiert. Wir brauchen mehr Primärversorgungszentren.

„Ein ganz großer Bereich ist die Prävention, aber auch die Betreuung von Menschen mit chronischen Erkrankungen, wobei der Fokus besonders auf einer strukturierten Versorgung liegt“, betonte der Allgemeinmediziner. Ein gutes Primärversorgungskonzept fördere die Compliance der Patienten, erhöhe die Zahl gesunder Lebensjahre und bringe eine gezielte Zuweisung und Kooperation mit Fachärzten und Krankenanstalten. „Primärversorgung in guter Ausprägung senkt die Krankenhausaufnahmen. Weniger Patientinnen und Patienten müssen ins Spital“, sagte Rebhandl. Insgesamt werde auch die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung erhöht.
„Wir brauchen in Österreich unbedingt eine Stärkung der Primärversorgung. Wir brauchen mehr Primärversorgungseinheiten. Wir haben schon etwa 30, aber das Ziel ist noch bei weitem verfehlt. Es braucht wirklich Anreize, Primärversorgungszentren zu schaffen“, betonte der Experte. Eine zukünftige EU-Förderung solle hier helfen. Zusätzlich sei ein Team von diplomiertem Gesundheits- und Krankenpflegepersonal und Therapeutinnen und Therapeuten verschiedenster Fachrichtungen (Physio-, Psycho-, Ergotherapie, klinische Psychologie, Diätologie, Sozialarbeit, Hebammen etc.) notwendig.
„Es braucht unter diesen Berufsgruppen eine sehr gute Vernetzung. Es braucht aber auch eine starke Vernetzung mit dem Ambulanzbereich und eine strukturierte Zusammenarbeit“, sagte Rebhandl. Der extramurale Bereich sollte zusammengeführt werden. Eine zentrale Forderung sei auch die Verbesserung der Ausbildung, insbesondere der Ärztinnen und Ärzte für Allgemeinmedizin. „Wir fordern die Einführung des Facharztes für Allgemeinmedizin und die damit verbundene Ausweitung der Ausbildung, vor allem der Lehrpraxisausbildung.

Telemedizinische Angebote sollten weiterhin zum täglichen Alltag in der Gesundheitsversorgung gehören. Die Digitalisierung soll zu einer maßgeschneiderten, personalisierten und optimierten Therapie führen.

Wir haben hier bisher eine verpflichtende Lehrpraxisausbildung von sechs Monaten. Sie gehört ausgeweitet auf zumindest eineinhalb Jahre. Man kann die Allgemeinmedizin nur dort lernen, wo sie passiert. Das ist im extramuralen niedergelassenen Bereich“, sagte der Experte.

Digitalisierung als Megatrend

„Digitalisierung ist in aller Munde. Es gibt sehr viel Handlungsbedarf. Erstens ist zu fordern, dass man das bereits vorhandene und existierende Potenzial tatsächlich umsetzt und nutzt. Das beginnt damit, dass man die erfolgreichen Projekte aus der Pandemiephase in den Regulärbetrieb überführt und nicht wieder abstellt“, sagte Dr. Reinhard Riedl, PRAEVENIRE-Vorstandsmitglied und Professor an der Fachhochschule Bern. Besonders telemedizinische Angebote sollten weiterhin zum täglichen Alltag in der Gesundheitsversorgung gehören. Weiters müsse man den Übergang zu „Blended Care“ schaffen, erklärte Riedl. „Blended Care meint, dass man die konventionelle Versorgungspraxis zusammenführt mit telemedizinischen Dienstleistungen und Apps, mit denen Patientinnen und Patienten bedarfsgerecht unterstützt werden in ihrer Therapiesituation und in Prävention und in Akutsituationen, zum Beispiel bei psychischen Erkrankungen“, so der Experte. „Wir wissen aus der Forschung zu Blended Care, dass wir durch die Integration von Apps nicht nur den Aufwand reduzieren können, sondern dass wir auch den Erfolg von Therapien vergrößern können. Wir bekommen mehr Wirkung und sparen gleichzeitig Kosten“, sagte Riedl. Die Anwendungsfelder seien sehr breit, von psychischen Erkrankungen bis hin zur Onkologie. So sollte auch das endlich sehr gut funktionierende Betriebssystem ELGA zu einer in der täglichen Praxis gut nutzbaren Plattform im Gesundheitswesen ausgebaut werden. Die Benutzung müsse eben einfach gestaltet sein. Daneben gehe es jetzt auch darum, den nächsten Schritt vorzubereiten. „Die klare Vision ist, dass wir von einer Gesundheitsversorgung, die für die durchschnittliche Patientin und den durchschnittlichen Patienten die bestmögliche Therapie bietet, zu einer Gesundheitsversorgung, die für Patientinnen und Patienten maßgeschneidert zu einer individualisierten Präzisionsmedizin führt“, sagte Riedl. Dazu müsse aber auch die Möglichkeit zur Datennutzung und zur Datenintegration kommen. „Es braucht die Daten der vielen, die entlang der Personen integriert werden, bevor sie einer statistischen Auswertung zugeführt werden. Wir müssen an diesem Ziel arbeiten. Es ist keine Option, dass wir in den USA die Daten kaufen und dann mit schlechten Daten, eine personalisierte Medizin nur approximativ erreichen“, sagte Riedl.

Gesundheit ist untrennbar mit Gesundheitskompetenz verbunden.

Der dritte Punkt sei, dass man das „Innovations-Ökosystem Digital Health“ zu einem besseren Funktionieren bringe. Politik, Entwickler und Benutzer müssten hier besser kooperieren können. Ohne Wissensvermittlung wird das wohl nicht gehen, wie auch Univ.- Prof. Dr. Beatrix Volc-Platzer, Präsidentin der Gesellschaft der Ärzte, erklärte. Die Präsentation der Weißbauch-Ausgabe 2021/2022 fand im Billrothhaus der Vereinigung in Wien-Alsergrund statt. „Gesundheit ist untrennbar mit der Gesundheitskompetenz verbunden.“ Vom 22. bis 24. Juni fand die erste PRAEVENIRE Summer School in Seitenstetten statt, eine Veranstaltung mit dem Ziel, vor allem Jugendliche anzusprechen. Und ein echtes Großprojekt, was neue Projekte betrifft. Hans Jörg Schelling dazu: „Wir haben gesehen, dass viel Entwicklungspotenzial vorhanden ist. Deshalb schreiben wir den 1. PRAEVENIRE Innovationspreis für die Kategorien Steigerung der Gesundheitskompetenz, Intensivierung von Präventionsmaßnahmen, Fortschritt in der frühen Diagnose und Verbesserung der Compliance/Adhärenz aus. Die Dotierung beträgt je Kategorie 10.000 Euro. Die Einreichfrist läuft bis 12. Dezember dieses Jahres.“

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