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Zukunft der Krebsbehandlung

© Peter Provaznik

Zukunft der Krebsbehandlung

© Peter Provaznik

Sieben onkologische Fachgesellschaften fassten die dringlichsten Probleme der onkologischen Versorgung zusammen und forderten im Dezember 2019 eine lösungs­orientierte Kommunikation aller Stakeholder. PERISKOP sprach mit dem Initiator der „Agenda Krebs 2030“, dem Präsidenten der Österreichischen Gesellschaft für Hämatologie & Medizinische Onkologie, Prim. Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Hilbe, über die Forderungen. | von Rainald Edel, MBA

Österreich wird seitens der Fach­gesellschaften Österreichische Gesellschaft für Hämatologie & Medizinische Onkologie (OeGHO), Österreichische Gesellschaft für Radioonk­ologie, Radiobiologie und Medizinische Radio­physik (ÖGRO), Arbeitsgemeinschaft für Gynäkologische Onkologie der OEGGG (AGO), Österreichische Gesellschaft für Chirurgische Onkologie (ACO ASSO), Österreichische Gesellschaft für Urologie und Andrologie (ÖGU), Österreichische Gesellschaft für Pneumologie (ÖGP), Österreichische Gesellschaft für Klinische Pathologie und Molekularpathologie (ÖGPath) derzeit noch als „Insel der Seligen“ gesehen. Denn für alle Patientinnen und Patienten ist eine State-of-the-Art-Behandlung in international angesehener, hoher Qualität gewährleistet, ebenso eine dichte und homogene Versorgungsstruktur. Zudem stehen die österreichischen Onkologinnen und Onkologen in einem engen interdisziplinären Austausch, der dem Wissenstransfer dient. Doch um den Status quo auch in Zukunft aufrechtzuerhalten, müssen — so sind sich die sieben Fach­gesellschaften einig — zwingend weitreichende strukturelle Maßnahmen gesetzt werden.

PERISKOP: Was führte zu der Einigung der sieben Fachgesellschaften?

Hilbe: Als ich im April 2019 zum Präsidenten der OeGHO gewählt wurde, wollte ich die Präsidentinnen und Präsidenten der anderen Fachgesellschaften kennenlernen. Aus diesen Erstgesprächen kristallisierten sich einige Themen heraus, die als gemeinsamer Nenner alle Organisationen betrafen. Die vordringlichsten Problemstellungen, die wir in der onkologischen Versorgung sehen und die eine rasche Lösung brauchen, fassten wir in der „Agenda Krebs 2030“ zusammen.

Was einigt die Gesellschaften?

Historisch gesehen haben sich die einzelnen Fachgesellschaften lange Zeit abgeschottet. In den letzten zehn Jahren hat diesbezüglich ein völliges Umdenken stattgefunden. Wir haben eine Auswertung unserer Fachgesellschaft gemacht, die zeigte, dass wir österreichweit rund 10.000 Tumorboards betreuen, bei denen rund 80.000 Fälle besprochen werden. Für mich als Onkologen ist ganz entscheidend, dass an diesen Besprechungen qualifizierte, motivierte und vor allem gut ausgebildete Fachkräfte teilnehmen. Denn je besser die Partner im Tumorboard sind, umso besser ist die Leistung, die wir der Patientin bzw. dem Patienten bieten können. Wir müssen daher schauen, dass es diese Expertinnen und Experten gibt und sie möglichst niederschwellig miteinander kommunizieren können. Es ist eine große Herausforderung, wie das nachhaltig gelingt.

Denn je besser die Partner im Tumorboard sind, umso besser ist die Leistung, die wir der Patientin bzw. dem Patienten bieten können.

Wie sieht die Zukunft der onkologischen Versorgung aus Ihrer Sicht aus?

Wenn man die Perspektive auf die nächsten zehn Jahre richtet, so soll es auch dann entsprechende Expertinnen und Experten geben, die sich in Spezialdisziplinen gut auskennen. Diese Fachkräfte müssen aber schon jetzt ausgebildet werden, denn es dauert in Summe zehn bis 15 Jahre, bis sie die entsprechende Kompetenz  und Erfahrung haben. Das hat Auswirkungen auf die Personalauswahl und -entwicklung und darüber hinaus Konsequenzen, wie ich als Arbeitgeber mit den Fach­ärztinnen und Fachärzten umgehe.

Was muss sich in der Personalpolitik ändern?

Momentan haben wir den Effekt, dass die Expertinnen und Experten die Kliniken nach der Facharztprüfung Richtung niedergelassenen Bereich verlassen. Nur die wenigsten bleiben an der Klinik und bilden sich zu Fachexpertinnen und -experten in einer Spezialdisziplin weiter. Die Arbeit in einer Praxis ist für viele attraktiver als die Umstände an einer Klinik mit Nachtdiensten und oftmals geringerer Bezahlung als im niedergelassenen Bereich. Den Spitälern fehlen dadurch aber die hochspezialisierten Fachkräfte.

Die jüngste Prognose über Krebserkrankungen sagt einen weiteren starken Anstieg voraus. Ein Grund zur Sorge?

Die Anzahl der Krebserkrankungen pro Altersgruppe ist sogar etwas zurückgegangen. Allerdings wird die Bevölkerung immer älter und „erlebt“ somit eine Krebserkrankung, wodurch es insgesamt zu einer Steigerung der Inzidenzen kommt. Die jährliche Steigerung der Menschen über 65 Jahren beträgt um die 2,5 Prozent. Das ist aber auch jene Gruppe, die eine Krebserkrankung haben wird. Die Patientinnen und Patienten, bei denen eine Krebserkrankung diagnostiziert wurde, leben länger, weil wir sie besser behandeln können. Der Anspruch, den diese Bevölkerungsgruppe an Ärztinnen und Ärzte stellt, wird dramatisch zunehmen. Wir rechnen damit, dass in zehn Jahren 50 Prozent mehr Leistung gefordert wird. Somit stellt sich die Frage, wie wir diesen Wunsch nach Qualität beantworten können.

Die Qualität der Behandlung geht mit dem Wissen einher. Sind die österreichischen Onkologinnen und Onkologen dafür gerüstet?

Wir, die sieben Fachgesellschaften, sind der Überzeugung, dass wir die Menschen heute sehr gut versorgen können. Allerdings bereitet uns Sorge, wohin der Weg gehen wird. Auch das immer rascher anwachsende Wissen — mittlerweile verdoppelt sich das relevante Wissen rund alle drei Jahre. Manche Studien weisen sogar eine Wissens-Verdopplung alle zwei bis drei Monate aus. Allein im Bereich der Onkologie haben wir in den letzten fünf Jahren 100 neue Medikamente bekommen. Bei einer Erkrankung unterscheiden wir heute im Schnitt bis zu 20 Unterentitäten. Es braucht daher sehr viel Detailwissen und Engagement, um die richtigen Maßnahmen zu setzen. Wir brauchen dazu auch die Binnennetzwerke; um Qualität zu leisten.

Im Zusammenhang mit dem von Ihnen angesprochenen immer rascher wachsenden Wissen steht der Innovationstransfer durch klinische Studien. Auch hier sehen die sieben Gesellschaften einen Handlungsbedarf. Was gehört verbessert?

Es werden pro Jahr rund 1.000 Studien angeboten, davon sind ca. 300 offen. Jährlich werden rund 1.500 Patientinnen und Patienten in klinische Studien eingeschlossen und behandelt. Allerdings sagen 40 Prozent der leitenden Ärztinnen und Ärzte, dass sie das Studienwesen nicht aus den daraus resultierenden Einnahmen finanzieren können. Das heißt, wenn man will, dass österreichische Kliniken auch weiterhin an Studien teilnehmen, müssen die Träger eine entsprechende Grundleistung übernehmen. Die Teilnahme an Studien ist sehr wichtig, da hier unsere Expertinnen und Experten schon in einem sehr frühen Stadium Erfahrungen mit den modernsten Präparaten sammeln und dann den Fachgesellschaften berichten können über den Bedarf und den richtigen Umgang, sowie welche Patientinnen und Patienten sich überhaupt für eine neue Therapieform eignen. Sonst sind wir im End­effekt dem Marketing von Pharmafirmen ausgeliefert, weil uns die eigene Expertise fehlt.

Die Zahl der Patientinnen und Patienten steigt, ebenso die Zahl der behandelbaren onkologischen Erkrankungen. Aber reicht eigentlich die Spitalsausstattung, wie wir sie kennen, für die nächsten zehn Jahre?

Das muss man differenziert sehen. Beispielsweise in meinem Kerngebiet, der medizinischen Onkologie, brauchen wir einen Infusionsplatz und eine Ambulanz — das haben wir. In den chirurgischen Fächern schaut die Lage schon anders aus. Hier hat sich in einigen Disziplinen der Einsatz von Chirurgie-Robotern bereits etabliert. Das technische Know-how sollte dem Zeitgeist entsprechen, und unsere Expertinnen und Experten sollten das für sie notwendige Equipment haben und damit auch umgehen können. Ebenso in der Pathologie gab es speziell im Wiener Raum eine längere Diskussion, ob jede Pathologie mit einem NGS-System (Next Generation Sequencing) ausgestattet sein soll, oder ob es reicht, Proben an eine zentrale Stelle zu versenden. Dem gegenüber steht die Frage der Ausbildung, denn wir brauchen in den Tumorboards eine entsprechende Anzahl an Fachkräften, die über das Wissen verfügen und die Auswertungen entsprechend interpretieren können. Ich denke, man sollte in einer vernünftigen Weise die Anliegen der Expertinnen und Experten ernst nehmen.

Momentan haben wir den Effekt, dass die Expertinnen und Experten die Kliniken nach der Facharztprüfung Richtung niedergelassenen Bereich verlassen.

Eine zeitgemäße onkologische Behandlung kann vielfach ambulant bzw. tagesklinisch erfolgen. Sind Österreichs Spitäler dies­bezüglich gut gerüstet?

In dem Bereich besteht ein organisatorisches Problem. Für stationär aufgenommene Patientinnen und Patienten wird der Therapieaufwand voll refundiert. Erst eine Reform des Abrechnungssystems 2018 ermöglichte auch die Abgeltung von tagesklinischen Leistungen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass in Österreich 70 Prozent der onkologischen Therapien stationär erfolgen und nur 30 Prozent ambulant bzw. tagesklinisch. International ist das Verhältnis genau umgekehrt. Um effizienter zu werden, müssen wir Tageskliniken ausbauen und auch dezentral anbieten. Eine Anbindung an eine Klinik ist nicht zwingend notwendig.

Überspitzt gesagt, die Krebsbehandlung beim Hausarzt?

Auch wenn es grundsätzlich den Wunsch gibt, den Zugang zu einer Therapie so niederschwellig, basis- und patientennah wie möglich anzusetzen, ist es in der Onkologie nicht möglich, die Behandlung in die Hände von Hausärztinnen und Hausärzten oder einer aufsuchenden Pflegekraft zu geben. Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner spielen eine wichtige Rolle im Vorfeld der Therapie und in der Nachsorge. Allerdings würden das Komplikations-Management und das nötige Wissen in der onkologischen Behandlung die normale Hausarztpraxis überfordern. Daher wären eigenständige, dezentrale, aber durch Fachkräfte geleitete Tageskliniken die adäquate Lösung. Dringend notwendig wäre für die Hausärztinnen und -ärzte eine gute Vernetzung und Anbindung an die Original-Patientendaten, damit sie sich in der Nachsorge noch besser einbringen können.

BioBox

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Hilbe studierte Medizin an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, wo er am Institut für Pathologische Anatomie dissertierte. Er ist Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie sowie Additivfacharzt für Intensiv­medizin. Hilbe habilitierte sich im Fach Innere Medizin und ist seit 2011 Programmleiter des PHD Studiengangs „Clinical Cancer Research“. 2015 wurde er zum Vorstand der 1. Medizinischen Abteilung — Zentrum für Onkologie und Hämatologie mit Ambulanz und Palliativstation ans Wilhelminenspital in Wien berufen. Im April 2019 wurde Hilbe Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Hämatologie & Medizinische Onkologie.

 „Agenda Krebs 2030

Fotocredit: © Peter Provaznik

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