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Wir müssen Selbstmedikation stärken

© Peter Provaznik

Wir müssen Selbstmedikation stärken

© Peter Provaznik

Der Präsident der IGEPHA — The Austrian Self Care Association, DR. GERHARD LÖTSCH, spricht im PERISKOP-Exklusivinterview über den rezeptfreien Arzneimittelmarkt in Österreich sowie die Vorteile durch Entlassungen von Medikamenten aus der Rezeptpflicht und richtet einen Appell an die einheimischen Pharma-Unternehmen.| Von Dr. Nedad Memić

Ziel der IGEPHA ist, dass jede Bürgerin und jeder Bürger schnell und einfach ohne ärztliche Verschreibung auf qualitativ hochwertige Produkte zugreifen kann. Sie vertritt jene Unternehmen in Österreich, die rezeptfreie Arzneimittel oder Gesundheitsprodukte herstellen oder vertreiben.

PERISKOP: Ist Österreich tatsächlich ein „Entwicklungsland“, was die Palette rezeptfrei verfügbarer Substanzen und Arznei­mittel betrifft?

LÖTSCH: Österreich ist, was die Arzneimittelversorgung im rezeptfreien Bereich betrifft, sicher kein Entwicklungsland. Dennoch ist in einer hochentwickelten und -differenzierten Pharma- bzw. Gesundheitswirtschaft wie der österreichischen für Verbesserungen noch viel Luft nach oben. Um besser zu verstehen, was ich konkret meine: Bei uns sind gerade einmal 78 Wirkstoffe rezeptfrei, in Neuseeland sind es 138. Man könnte aber mit Recht genauso gut fragen, ob die Europäische Union ein Entwicklungsland ist, was die Palette an rezeptfrei verfügbaren Substanzen betrifft: Denn der Vizepräsident der Europäischen Kommission, Antonio Tajani, hat in seiner Initiative 2011 ernüchternd feststellen müssen, dass gerade einmal fünf Wirkstoffe in 24 der damals 27 EU-Mitgliedstaaten gleichzeitig rezeptfrei verfügbar waren — bis heute hat sich an dieser Situation nicht wirklich etwas geändert.

Wo sehen Sie also Handlungsbedarf?

Meines Erachtens macht es wenig Sinn, die Klassifikation eines Wirkstoffes jedem EU-Mitgliedsland einzeln zu überlassen.
Daher wünsche ich mir eine Klassifikation auf europäischer Ebene. In 28 Mitglied­staaten bestimmen 28 Rezeptpflichtkommissionen zu ein und demselben Wirkstoff
28 Varianten — von „abgelehnt“ über „abgelehnt mit Ausnahmen“ und „zugestimmt mit Ausnahmen“ bis zu „zugestimmt“. Und da ist noch jede Menge kreativer Spielraum bezüglich Packungsgrößen und Dosisstärken frei. Ich verstehe aber durchaus die nationalen Bedenken, dass die Harmonisierung des Status „rezeptfrei“ oder „rezeptpflichtig“ unter den Mitgliedstaaten zu einer Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner führen könnte, der dann das nationale Angebot zumindest mittelfristig eher vermindert
als erweitert.

Rezeptfreiheit hat nichts mit verminderter Sicherheit zu tun.

Da ist zunächst einmal ganz nüchtern der  wirtschaftliche Vorteil für alle Beteiligten:  Erstens schaffe ich für bestimmte, leicht selbst zu diagnostizierende Indikationen einen schnelleren, niederschwelligen Zugang zur Therapie. Zweitens generiere ich wertvolle Ressourcen für den niedergelassenen ärztlichen Bereich, welcher ohnehin mit Überlastungsproblemen zu kämpfen hat. Durch eine Erweiterung des Portfolios an rezeptfrei verfügbaren Wirkstoffen bringen wir letztlich Bagatellerkrankungen und Befindlichkeitsstörungen dorthin, wo sie hingehören, nämlich in den Bereich der Behandlung durch Eigeninitiative und Selbstmedikation. Ein Ausbau der Self Care oder Selbstmedikation bedeutet also keineswegs eine Bedrohung für Arztpraxen. Er hilft der Allgemeinheit zu sparen. Self Care spart dem Gesundheitssystem nachweislich im Schnitt 5,20 Euro pro einzelner Eigeninitiative durch Selbstbehandlung.

Aus anderer Perspektive betrachtet schafft die Entlassung aus der Rezeptpflicht für einen gewissen Katalog von Indikationen einen schnelleren und damit auch effizienteren Zugang zur Therapie. Wie viel Arbeitszeit geht volkswirtschaftlich verloren, wenn sich eine Patientin bzw. ein Patient etwa bei einer Fußpilzinfektion erst mühsam einen Termin beim Dermatologen erkämpfen muss, dort eine Verschreibung erhält und damit dann erst in eine Apotheke geht? Hier ist in den meisten Fällen die erste Intervention mit einem OTC-Präparat aus der Apotheke völlig ausreichend.

Meines Erachtens macht es wenig Sinn, die Klassifikation eines Wirkstoffes jedem EU-Mitgliedsland einzeln zu überlassen.

© Peter Provaznik
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Wie sicher sind aus der Rezeptpflicht entlassene Präparate?

In Ihrer Frage klingt die Befürchtung oder gar die Unterstellung an, dass Rezeptfreiheit etwas mit verminderter Sicherheit zu tun haben könnte — das ist nicht der Fall. Ein Beispiel: Vor einigen Jahren wurden Präparate zur Notfallkontrazeption in Österreich rezeptfrei gestellt. Das sind hochwirksame Präparate, deren Anwendung und Einnahme alles andere als unproblematisch ist. Es besteht die Gefahr von Fehlanwendungen, Nebenwirkungen, Missbrauch als „normales Verhütungsmittel“ etc. Greife ich jetzt allein den Sicherheitsaspekt heraus, dann wäre der Status „OTC“ für diese Präparate niemals vertretbar. Es kommt aber ein weiterer Aspekt hinzu, nämlich der des Nutzens einer raschen Interventionsmöglichkeit. Notfallkontrazeption hat etwas mit den Begriffen „Notfall“ und „Ausnahmesituation“ zu tun. Es muss folglich schnell gehen. Also hat man sich nach eingehender Diskussion dafür entschieden, diese Präparate für den OTC-Markt freizugeben.

Den Aspekt der Nutzen-Risiko-Balance müssen wir in jeder Switch-Diskussion stärker herausarbeiten und uns anstelle eines Schwarz-Weiß-Denkens kreativ auf die Suche nach Lösungen machen. Denkbar wären beispielsweise innovative Schritte, wie „verschreibungsfrei nach Erstdiagnose und Ausschluss anderer Erkrankungen durch einen Arzt“ — jeder Migränepatient wäre für eine derartige Lösung dankbar! Oder Assessment in Form einer Checkliste, die von geschulten Apothekerinnen und Apothekern abgefragt wird. Das funktioniert in anderen Ländern ja auch schon. Auch stark reduzierte OTC-Packungsgrößen wären eine Möglichkeit. Eines darf man in diesem Zusammenhang nicht vergessen: Weder in
Österreich noch in Deutschland ist ein seit dem Jahr 2000 rezeptfrei gestellter Wirkstoff wieder in die Verschreibungspflicht zurückgeführt worden, weil dies Sicherheits­aspekte notwendig gemacht hätten.

Woran liegt es, dass Österreich bei der Entlassung aus der Rezeptpflicht eher zögerlich ist?

Hier spielen eine Menge Faktoren zusammen. Selbstverständlich steht der Sicherheitsgedanke immer im Vordergrund. Ich sehe aber die Ursache auch darin, dass unser Gesundheitssystem aus historischen Gründen die Entwicklung des Self Care-Gedankens völlig hat verkümmern lassen. Dabei krankt unser Gesundheitssystem gerade auch daran, dass die Patientin oder der Patient jeweils „zu hoch“ in das System einsteigt. Statt zuerst den Allgemeinmediziner zu konsultieren, führt schon der erste Weg gleich zum Facharzt oder in die Ambulanz. Oder statt sich in der Apotheke mit fachlichem Rat selbst eine Lösung zu suchen, wird auch bei geringfügigen Erkrankungen gleich die Arztpraxis aufgesucht — und diese damit für schwerere Fälle blockiert.

Es gibt aber auch Faktoren, die für die Unternehmen bislang hinderlich waren, einen Switch-Prozess anzustreben: Die Erfahrungen der letzten Jahre mit den Entscheidungen der Rezeptpflichtkommission waren wahrlich nicht positiv. Ich kann nur betonen, dass hier neuerdings eine spürbar neue Sichtweise Einzug gehalten hat und die Nutzen-Risiko-Diskussion über einen Switch-Antrag eine vernünftigere Balance erhält. Für Pharma-Unternehmen dürfte außerdem die Tatsache, dass Österreich für manche Wirkstoffe einfach ein zu kleiner Markt ist, eine zusätzliche Hürde beim Einreichen von Switch-Anträgen darstellen.

Die IGEPHA hat 2018 viel getan, um Prozesse anzukurbeln und das Switch-Klima zu verbessern. Welches Resümee ziehen Sie?

Dem Thema „Switch“ bzw. „Rezeptfreistellung“ steht heute kaum mehr jemand ablehnend gegenüber. Die Switch-Studie, die Stakeholder-Befragung und die Switch-Konferenz der IGEPHA haben einen wesentlichen Beitrag zu einer positiven Entwicklung geleistet. Wir haben es an den vermehrten Anfragen verschiedener Hersteller gemerkt, dass das Interesse zu switchen da ist — wenngleich noch immer Unsicherheit darüber herrscht, ob sich der Aufwand angesichts der geringen Erfolgsaussichten wirklich lohnt. Ich denke, die IGEPHA-Veranstaltungen haben hier wertvolle Aufklärungsarbeit geleistet und ein offenes Forum für alle Stakeholder in dieser Diskussion angeboten. Ich bin daher etwas enttäuscht, dass dieses doch deutliche Interesse dann in lediglich zwei Anträge mündete. Beide wurden mit einer positiven Switch-Empfehlung an die Frau Bundesministerin entschieden.

Jener Switch-Antrag, der gar nicht erst gestellt wird, hat die geringsten Erfolgsaussichten.

Für welche Substanzen wäre ein Switch aus Ihrer Sicht überfällig? 

Die folgende Auflistung ist rein subjektiv. Im Schmerzbereich fällt auf, dass systemisches Diclofenac und Ketoprofen bei uns in keiner OTC-Version angeboten werden. Im Bereich allergische Rhinitis fallen mir zum Beispiel
Mometason, Fluticason und andere nasale
Corticoide ein. Im Bereich der Gastroentero­logie fehlen meiner Meinung nach H2-Hemmer wie Cimetidin oder Ranitidin. Triptane zur Migränebehandlung — in kleinen Packungs­einheiten — sind hierzulande längst überfällig. Bei den Antihistaminika fällt mir Desloratadin ein, das gibt es in nordischen Ländern — übrigens auch in Polen — schon länger rezeptfrei. Bei topischem Hydrocortison scheint inzwischen ein Einstellungswandel zugunsten von OTC-Medikamenten stattzufinden. In der Schweiz wundere ich mich über rezeptfrei erhältliche Codein-Präparate zu Behandlung von Husten­erkrankungen — aber es funktioniert offenbar. Diese Sicht deckt sich auch weitgehend mit dem von den Autoren der Switch-Studie, Prof. Dr. Uwe May und Cosima Bauer, MA, publizierten Scoring-Modell für Österreich.

Einige Switches entwickelten sich zu regelrechten Erfolgsstorys, andere erwiesen sich als Flop. Was können sich an Switches interessierte Firmen von den Positiv-Beispielen abschauen?

Switch alleine ist keine Erfolgsgarantie! Topisches Diclofenac zur Behandlung von Rücken- und Gelenkschmerzen beispielsweise war nicht nur in Österreich als Switch sehr erfolgreich: Produkt, Packungsgestaltung, Werbeauftritt — das muss alles zusammenpassen. In Deutschland erfüllt Mometason offenbar ein Patientenbedürfnis nach rascher Intervention bei allergischer Rhinitis. Dasselbe gilt für Naratriptan zur Migränebehandlung in Packungsgrößen zu zwei Stück. Aber für einen erfolgreichen Produktlaunch nach einem Switch bedarf es unbedingt auch einer entsprechenden Kommunikation und Information der Fachkreise, der Ärzteschaft sowie der Apothekerinnen und Apotheker. Diese müssen über das Präparat Bescheid wissen und Informationen bereithalten können. TV-Werbung ans Publikum alleine ist nicht ausreichend.

Welche Rolle spielt die Apotheke? Sind Apothekerinnen und Apotheker an einer Erweiterung der OTC-Palette interessiert?

Die Apotheke ist zurzeit der wichtigste Stakeholder im OTC-Markt und wird es auch bleiben. Umfragen in Österreich und Deutschland ergaben, dass das auch die Apothekerinnen und Apotheker so sehen. Unsere gemeinsam mit dem Apothekerverband und dem Verband Angestellter Apotheker durchgeführte Umfrage hat für Österreich ergeben, dass mehr als 75 Prozent der Apothekerinnen und Apotheker grundsätzlich weitere Switches befürworten. 81 Prozent sagen, dass Selbstmedikation dazu beiträgt, die Kompetenz der Dienstleistungen in den Apotheken zu stärken. Gute Beratung trägt zur Kundenbindung bei und ist eine wichtige Verteidigungslinie der stationären Apotheken gegen den Versandhandel oder gegen andere Produkte, die aus dem Lebensmittelhandel in den Gesundheitsmarkt hineindrängen.

Ein Hemmnis für Switches liegt auch in der Tatsache, dass die Antragsteller rasch Konkurrenz durch generische Produkte bekommen. Die Industrie bemängelt den knappen Unterlagenschutz. Was wäre zu tun?

Das Problem des unzureichenden Schutzes von Switch-Investitionen gegen Nachahmer ist seit Jahren bekannt. Auf europäischer Ebene muss daher nachdrücklich auf zwei bis drei Jahre Schutzfrist gedrängt werden, um inno­vative Switches zu fördern, so wie es jetzt schon in den USA oder in Japan geregelt ist.

Auf österreichischer Ebene gibt es aber auch noch einen anderen Weg, nämlich den Switch der Spezialität im Zusammenhang mit § 24 AMG. Vereinfacht ausgedrückt: Man kann für eine bestimmte Spezialität — einen bestimmten Wirkstoff, eine bestimmte Indikation — die Rezeptfreiheit erwirken, ohne damit die Rezeptpflichtkommission zu befassen. Auf diese Weise bleibt der Wirkstoff in der Rezeptpflichtverordnung weiterhin „rezeptpflichtig“, der Zulassungsinhaber hat für seine Spezialität aber quasi eine maßgeschneiderte Ausnahmegenehmigung und der Mitbewerb kann dem nicht unmittelbar folgen.

Was raten Sie abschließend den pharmazeutischen Unternehmen, die in einen Switch-Prozess einsteigen wollen?

Jener Switch-Antrag, der gar nicht erst gestellt wird, hat die geringsten Erfolgsaussichten. Die Bevölkerung ist auf der Suche nach einfachen, effizienten Problemlösungen und unsere Aufgabe ist es, dem nachzukommen. Das Potenzial ist riesig! Ich appelliere auch, sich rechtzeitig entsprechenden Rat zur Formulierung von Switch-Anträgen zu holen. Der Industrievertreter in der Rezeptpflichtkommission und die IGEPHA stehen gerne beratend zur Verfügung.

BioBox

Dr. Gerhard Lötsch ist seit 2013 Präsident der IGEPHA — The Austrian Self Care Association, nachdem er dieses Amt bereits von 2004 bis 2007 innehatte. Er schloss das Studium der Pharmazie an der Universität Wien ab. Bei der Gebro Pharma GmbH in Tirol war er Leiter der Entwicklung und Forschung sowie Marketingleiter.  Momentan ist Lötsch General Manager der GSK-Gebro Consumer Healthcare GmbH und Mitglied der Rezeptpflichtkommission.

FactBox

Die IGEPHA – The Austrian Self Care Association
wurde 1967 gegründet. Sie unterstützt ihre Mitglieder und vertritt deren Interessen gegenüber allen Stake­holdern im Gesundheitssektor. Mit ihrem umfang­reichen Wissen und ihrer langjährigen Erfahrung ist die IGEPHA die kompetente Service-, Beratungs- und Meinungsbildungseinrichtung für den Self Care-Bereich in Österreich. Sie setzt sich für faire, nachhaltige und zukunftsweisende Rahmenbedingungen auf dem Gesundheitsmarkt ein. Die IGEPHA steht ihren über 80 Mitglieds­firmen in allen relevanten Fragen im OTC-Bereich zur Seite. Auf internationaler Ebene ist sie Mitglied des Europäischen Verbands der Arzneimittelhersteller (AESGP), mit dem sie auch eng kooperiert.


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