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Wege aus der Arzneimittelkrise

Gruppenbild
© KRISZTIAN JUHASZ

Wege aus der Arzneimittelkrise

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Anlässlich der 8. PRAEVENIRE Gesundheitstage im Stift Seitenstetten vom 22. bis 26. Mai 2023 sprachen Österreichs führende Gesundheitsexpertinnen und -experten zum hochaktuellen Thema „österreichische Maßnahmen und Innovationen zur Sicherstellung der Arzneimittel am Markt“.

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Mag. Dora Skamperls

PERISKOP-Redakteurin

Die Liste der nicht lieferbaren bzw. eingeschränkt lieferbaren Medikamente wird immer länger. Knapp 600 Arzneimittel sind davon derzeit betroffen – vor allem Antibiotika, Blutdrucksenker, Schmerzmittel und Schilddrüsen-Präparate. Auch bei Arzneimitteln für Kinder wird die Lage immer dramatischer. Ein Ende des Problems ist nicht in Sicht. Österreich darf sich diesbezüglich nicht auf globale bzw. Lösungen der EU verlassen, sondern muss jetzt handeln. Statt sich als ohnmächtiger Passagier der Weltwirtschaft zu sehen, könnte Österreich selbst Maßnahmen dagegen entwickeln, so der Tenor der Veranstaltung.

Hochaktuelle Themenschwerpunkte

Maßnahmen und Innovationen zur Sicherstellung der Arzneimittelversorgung in Österreich standen am Mittwochnachmittag, 24. Mai 2023, bei den 8. PRAEVENIRE Gesundheitstagen im Stift Seitenstetten 2023 am Programm. Themenschwerpunkte waren Arzneimittellieferengpässe und Analyse der Lieferkettenprobleme, innovative Herstellverfahren von Wirkstoffen, Arzneimitteln und Förderung des österreichischen Wirtschaftsraums für die Arzneimittelproduktion sowie das Spannungsfeld zwischen teureren Innovationen für die Einzelnen und steigenden Therapiekosten für die gesamte Bevölkerung.

Ursachen erkennen, Strategien entwickeln

DI Dr. Christa Wirthumer-Hoche, ehemalige Leiterin der AGES-Medizinmarktaufsicht, begann ihre Keynote „Lieferengpässe von Arzneimitteln in Österreich und der EU – Ursachen, Analyse und Maßnahmen“ mit der Feststellung, dass derzeit rund 600 Medikamente in Österreich nicht oder teilweise nicht lieferbar seien – gefolgt von der Frage nach den Gründen: „Wir arbeiten seit Jahren daran, die Ursachen zu analysieren und Maßnahmen zu treffen, damit die Situation in Zukunft besser wird.“ Mehr als 50 Prozent der Problematik lägen in der Wirkstoffproduktion außerhalb der EU, in China, Indien und Südamerika. Ein weiteres Thema sei der erhöhte Bedarf; die für die österreichische Bevölkerung errechneten Bedarfe stellten sich in den letzten Jahren, auch bedingt durch die Pandemie, als wesentlich zu niedrig heraus. Verzögerungen in der Lieferketten seien ein weiterer Aspekt, die durch Maßnahmen im Bereich der Logistik gelöst werden müssten. „Europa hat dieses Problem natürlich erkannt und es ist in allen Strategien Priorität Nummer eins, dass Arzneimittel verfügbar sind – und zwar rasch verfügbar, vor allem auch innovative Produkte, und überall in Europa“, so Wirthumer-Hoche. Es brauche also auch Systeme der gleichmäßigen Verteilung.

Gesetzliche Voraussetzungen schaffen

Ein oft genannter Lösungsweg, nämlich das Zurückholen der Produktion nach Europa, sei an Rahmenbedingungen gekoppelt. Einerseits ginge es eher darum, die noch vorhandene Produktion hier zu halten. Und andererseits müsse das Augenmerk auf die Entwicklung innovativer Technologien gerichtet werden, die eine kostengünstige Wirkstoffproduktion in Europa möglich machen. Daneben sei eine Adaptierung des regulatorischen Systems nötig. Am 26. April 2023 wurden endlich die Entwürfe für eine neue Richtlinie und eine neue Verordnung der allgemeinen Pharmagesetzgebung publiziert. In diesen sei zum ersten Mal definiert, was unter einem Lieferengpass genau zu verstehen ist, und ab welchem Punkt entsprechende Maßnahmen auf EU-Ebene zu treffen sind. Es bestehe ein gewisser Druck, das Gesetz noch heuer zu verabschieden, so Wirthumer-Hoche – denn im Mai 2024 finden die EU-Parlamentswahlen statt, wodurch sich die Finalisierung der Gesetzgebung im ungünstigsten Fall auf 2025 verschieben könnte. Das Gesetz beinhalte beispielsweise längere Fristen einer Meldung durch Arzneimittelhersteller, wenn sie planen, die Produktion eines Medikaments einzustellen. Bis dato waren das zwei Monate, das neue Gesetz sieht zwölf Monate dafür vor. In Österreich wurde mit einer der letzten Novellen des Arzneimittelgesetzes (AMG-Novelle) bereits von zwei auf vier Monate Meldefrist erhöht. Die längeren Fristen seien aber nur einzuhalten, wenn Pharmafirmen eine Sicherheitsbevorratung von rund einem Jahr hätten, was früher der Fall war. Doch heute werde nur noch auf Bestellung entsprechend den Bedarfsberechnungen produziert, da dies Kosten spare.

Vorbild Finnland

Finnland habe eine eigene Gesetzgebung, die Lieferengpässen zuvorkomme, erklärte Wirthumer-Hoche. Dort ist eine Sicherheitsbevorratung für bestimmte Kategorien von Arzneimitteln gesetzlich vorgesehen. Je nach Kategorie ist auch die Dauer der Bevorratung festgelegt. Der Bedarf wird aus den Verkaufszahlen des vorangegangenen Jahres pro Firma berechnet. Da beispielsweise Antibiotika zehn Monate bevorratet werden müssen, sei Finnland wesentlich besser über die Krisenzeit des letzten Winters gekommen, als Antibiotika weltweit kaum verfügbar waren. In Österreich laufen seit Längerem Diskussionen zur Sicherheitsbevorratung je Arzneimittelkategorie. Weiter brauche es ein System der Verteilung bei Engpässen, das kommunizierende Vertriebseinschränkungsregister der einzelnen Länder zur Voraussetzung habe. Denn 80 Prozent der Lieferengpässe betreffen nicht ganz Europa, sondern nur einzelne Länder. Das heißt, dass sich Länder durchaus gegenseitig aushelfen könnten. Im neuen EU-Arzneimittelgesetz werde auch die Schaffung einer eigenen Plattform gefordert, die einen Daten- und Informationsaustausch zum Zweck der Arzneimittelversorgung in Europa gewährleisten soll.

High­-tech­-Medikamente bedingen neue Produktionsverfahren

„Ich bin weder Pharmazeut noch Mediziner, sondern Professor der Verfahrenstechnik“, begann Univ.-Prof. DI Dr. Johannes Khinast vom Institut für Prozess- und Partikeltechnik der TU Graz, seine Keynote mit dem Titel „Neue innovative Herstellverfahren von Wirkstoffen und Arzneimitteln“. Die Verfahrenstechnik beschäftigt sich mit der Produktion von chemischen Produkten. Durch die Zusammenarbeit mit fast allen großen Pharmaunternehmen der Welt habe er einen guten Einblick, was in der Pipeline sei und wohin die Reise bei den innovativen Medikamenten der Zukunft gehe. Es habe sich in den letzten zwanzig Jahren „unglaublich viel getan“, basierend auf dem molekularen Verständnis der Erkrankungen, so Khinast. Basierend auf diesem Verständnis gibt es ganz neue Therapieansätze. Das bedeutet auch, dass Medikamente wesentlich komplizierter geworden sind, moderne Medikamente seien „High-tech-Produkte“. Das mache auch deren Produktion komplexer. In weiterer Folge werden im Rahmen der personalisierten Medizin für jede und jeden Einzelnen Medikamente maßgeschneidert. Derzeit begegnen wir diesen Herausforderungen noch mit einer bis zu 80 Jahre alten Produktionstechnik, erklärte Khinast. Hier ortet er das Hauptproblem für Lieferengpässe und Versorgungsschwierigkeiten – die Produktionstechnik ist veraltet, zu langsam, zu teuer, zu unflexibel.

Umweltfreundliche Produktion in Europa

Khinast sieht es als unumgänglich, sich von China und Indien durch eine Verlagerung der Produktion wichtiger Wirkstoffe nach Europa unabhängig zu machen. Der Schlüssel dazu sei eine neue Produktionstechnologie, die Europa als Produktionsstandort wettbewerbsfähig mache: das kontinuierliche Produktionsverfahren in modernen Kleinrproduktionsanlagen, das mithilfe von Nano-Enkapsulation die Wirkstoffe als mRNA-Nanopartikel rasch und kostengünstig herstellen könne. Moderne Computertechnik bzw. Software mache die Entwicklung digitaler Zwillinge möglich, die eine Simulation neuer Verfahren wesentlich erleichtert und kosteneffizient macht. Diese Simulationen, beispielsweise für das Fließverhalten von Pulvern, ermöglichen die Entwicklung neuer Verfahren in kürzester Zeit. Zusammenfassend demonstrierte Khinast, dass das „High-speed Manufacturing“ mittels „Continuous API synthesis“ nicht nur unabhängig von weltweiten Engpässen mache, sondern auch durch die lokale, transport- und rohstoffsparende Produktion einen wichtigen Beitrag zum Umweltschutz darstelle.

Innovationsfreundliches Klima

Mag. Eva Landrichtinger, Generalsekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft (BMAW), zeichnete mit ihrer Keynote „Förderung des österreichischen Wirtschaftsraums, speziell für die Produktion von Arzneimitteln“ ein klares Bild der gesetzlichen und politischen Rahmenbedingungen. Österreich sei nach wie vor ein attraktiver Standort für die Pharmaindustrie, stellte sie zu Beginn klar. In Österreich seien rund 1.000 Firmen lokalisiert mit einem Rekordumsatz von 25,1 Mrd. Euro im Jahr 2020. Mit 20,4 Prozent Forschungsquote und über 60.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sei die Pharmabranche eine der innovationsfreudigsten in Österreich, so Landrichtinger. Besonders attraktiv sei Österreich durch eine breit aufgestellte Basis in den Life Sciences, somit seien viele akademische Fachkräfte aus allen Spezialisierungsgraden verfügbar. Andererseits gebe es hierzulande neben den starken Leitbetrieben und Headquarters eine große forschungsfreudige Start-up-Szene. Die Politik sei ständig aufgerufen, die Standortfaktoren zu verbessern. Neben hochqualifizierten Arbeitskräften seien dies eine gute Infrastruktur, Rechtssicherheit, Planungssicherheit und eine aktive Life-Science-Community. Daneben gibt es weiche Faktoren wie Streiksicherheit, sozialer Frieden und hoher Lebensstandard. Vor allem aber seien die Unterstützung und Förderung von Forschung und Innovation wichtig. Österreich verfüge über eine vielfältige Förderlandschaft aus direkten und indirekten Incentives, erklärte Landrichtinger. Da die Förderlandschaft bottom-up aufgestellt sei und Forschungsagenturen keine Themen vorgeben, sei in Österreich themenoffene Forschung möglich, die eine rasche Reaktion auf Innovationsdynamiken ermögliche. Wissenschafts- und Wirtschaftskooperationen werden explizit gefördert.

Forschungsförderung und Standortvorteil

Doch welche weiteren Maßnahmen gibt es seitens der Bundesregierung? In den letzten Jahren wurde viel zur Forschungsförderung geleistet, u. a. zuletzt ein 50 Mio. Euro starkes Programm der österreichischen Förderagentur für wirtschaftsnahe Forschung, Entwicklung und Innovation (FFG). Die EU hat mit dem Pakt für Forschung und Innovation (PFI) ein Paket von fünf Mrd. Euro bereitgestellt. Ein weiterer Anreiz ist die Forschungsprämie, in deren Rahmen Unternehmen für Forschung und Innovation eine Prämie in Höhe von 14 Prozent der Aufwendungen für Forschung erhalten können, was sowohl für eigenbetriebliche als auch in Auftrag gegebene Forschung gilt. Vor allem Start-ups und kleine und mittlere Unternehmen (KMU) profitieren von dieser Prämie. Innovationsschutz ist ein weiterer globaler Wettbewerbsfaktor; Österreich tut viel im Bereich des Patentrechts und setzt sich auch in der EU für sinnvolle Lösungen ein. Ein kritischer Punkt sei, so Landrichtinger, die Überführung der Innovationen in die Produktion, den Markt und damit die Erstattung. Im internationalen Wettbewerb gelte es, die Standortvorteile einer wissensbasierten, akademisierten und hochqualifizierten Gesellschaft zu nutzen. Zwei Incentives können von Unternehmen jederzeit genutzt werden: die Klima- und Transformationsoffensive, die heuer ins Leben gerufen wurde, sowie der Innovationsfreibetrag als Nachfolger der Innovationsprämie.

Solidarität in der EU

Abschließend betonte Landrichtinger die hohe Bedeutung der Solidarität in der Europäischen Union, die Voraussetzung für die gemeinsame Bewältigung von Krisensituationen sei. Auch eine nachhaltige Versorgung mit kritischen Arzneimitteln und Wirkstoffen könne nur auf dem solidarischen Weg und in enger Zusammenarbeit auf europäischer Ebene gelingen. Dafür müsse die österreichische Bundesregierung die Rahmenbedingungen schaffen und sicherstellen, dass der Stellenwert Europas wirtschaftlich und versorgungstechnisch gestärkt werde. Für ein geschlossenes Vorgehen auf EU-Ebene sei das Einvernehmen aller Stakeholder in Österreich erforderlich.

Engpässe kein neues Phänomen

Assoc. Prof. Priv.-Doz. Mag. Dr. Peter Klimek von der MedUni Wien lieferte mit seiner „Analyse der Lieferkettenprobleme – Fokus auf die Lieferketten von Arzneimitteln“ einen wertvollen Einblick in die Hintergründe der Versorgungsproblematik. Am Beispiel von Antibiotika, die zu den häufigsten von Engpässen bedrohten Medikamenten gehören, stellte er dar, welche Gründe hinter den Lieferschwierigkeiten stecken können. Bei einem volatilen Bedarf und niedrigen Gewinnmargen im Gegensatz zu Medikamenten, die bei chronischen Erkrankungen laufend benötigt werden, besteht seitens der Pharmafirmen weniger Interesse an einer Produktion. Deshalb hat sich die Produktion in wenige Länder verlagert, wo diese noch wirtschaftlich sinnvoll ist. „Engpässe sind kein neues Phänomen“, stellt Klimek dar. „Tatsächlich haben in der Pandemie viele Länder erst begonnen, ihr Monitoring für Engpässe systematisch hochzufahren.“ Gleichzeitig sei in der Pandemie aber das Problem entstanden, dass 40 Prozent der Medikamente, die nicht lieferbar waren, auch nicht substituiert werden konnten. So wurde aus Lieferengpässen ein Versorgungsengpass. Allerdings sei der Antibiotikaverbrauch pro Kopf in Österreich einer der niedrigsten in Europa, so Klimek.

Bedarfsermittlung und Produktion

Die internationalen Maßnahmen zur Reduktion des Antibiotikaverbrauchs machen wiederum den Markt für die Hersteller weniger rentabel. Ein weiterer Grund für punktuelle Lieferengpässe ist die Trägheit der Produktion, führt Klimek aus. Die Bedarfe für Medikamente werden anhand von Bedarfskurven errechnet, die auf dem jeweiligen Vorjahr basieren. Wenn der Bedarf plötzlich sprunghaft ansteigt, kann nicht rasch nachproduziert werden. Was bedeutet die Volatilität im Bedarf für die Produktion, die dahintersteckt? Wieder am Beispiel Antibiotika lässt sich die Wertschöpfungskette vergleichsweise gut u.a. anhand von Daten aus dem Handel rekonstruieren. Bei den Ausgangsstoffen gibt es mittlerweile eine extreme Konzentration auf wenige Fabriken, mehrheitlich in China und Indien. Dies führt zu einem großen systemischen Risiko in den Handelsnetzwerken. Außerdem besteht in Nordamerika und Europa ein Clusterrisiko, da eine fast hundertprozentige Abhängigkeit von einem einzigen Land besteht, nämlich China. Das macht ein Ausweichszenario umso schwieriger. Die Firma Sandoz in Kundl/Tirol sei ein Beispiel, wo die komplette Wertschöpfungskette für ein Antibiotikum in Österreich lokalisiert ist – und trotzdem gab es in Österreich Engpässe. Das heißt, Nearshoring bzw. Friendshoring bedeutet nicht automatisch die Lösung aller Probleme, führt Klimek aus. Denn es heißt, den internationalen Markt zu verstehen.

Marktversagen analysieren

Einflussfaktoren für ein Marktversagen seien zusammenfassend die volatile Nachfrage, Produktionskonzentration in einzelnen Ländern und unwirtschaftliche Verkaufspreise. Letzteres bedeutet, dass in einer wirtschaftlich nicht rentablen Situation auch weniger Innovation passiert, was in Hinblick auf Resistenzen negativ zu sehen ist.

Gegensteuernde Maßnahmen wären allem voran eine strukturierte Bedarfserhebung auf Basis der Indikationen und der Verkaufszahlen sowie der Lagerbestände. Eine klassische Supply Chain Methode würde langfristige und stabile Lieferbeziehungen schützen. Länder, Regionen und Regierungsbehörden könnten ihre Verhandlungsmacht global fördern durch gemeinsamen Einkauf. Diversifizierung muss in breitere geopolitische Überlegungen eingebettet werden, kann aber wesentliche Vorteile schaffen. In weiterer Folge könnten subventionierte Beschaffungsmodelle global Versorgungssicherheit fördern. Die EU erarbeitet zurzeit Vorschläge für Maßnahmen, die ein konzertiertes Vorgehen anstreben.

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