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Über das Potenzial zwischenmenschlicher Wertschätzung

Stefanie Auer und Johannes Oberndorfer sprachen über die Wichtigkeit, Menschen mit Demenzerkrankungen zuzuhören und sie ernstzunehmen.

Über das Potenzial zwischenmenschlicher Wertschätzung

Stefanie Auer und Johannes Oberndorfer sprachen über die Wichtigkeit, Menschen mit Demenzerkrankungen zuzuhören und sie ernstzunehmen.

Univ.-Prof. Dr. Stefanie Auer ist stellvertretende Dekanin der Fakultät für Gesundheit und Medizin, stellvertretende Leiterin des Departments für Klinische Neurowissenschaften und Präventionsmedizin sowie Leiterin des Zentrums für Demenzstudien an der Donau Universität Krems. Mit PERISKOP sprach sie über das Entwicklungspotenzial der Demenzversorgung in Österreich, die Bedeutung von Bewusstseinsbildung und positiver Kommunikation sowie die Schlüsselrolle eines wertschätzenden Umgangs mit den Betroffenen und ihren Familien. | von Lisa Türk, BA

Laut bestehender Prognosen wird in Österreich über kurz oder lang fast jede Familie von einer Alzheimer — respektive Demenzerkrankung — betroffen sein. Mit den zunehmenden Zahlen gehen die Notwendigkeit optimierter Versorgungsstrukturen und Bewusstseinssteigerung bei der gesamten Bevölkerung in punkto Gehirngesundheit einher.

PERISKOP: Von Demenz betroffene Menschen haben häufig mit Stigmatisierung, Tabuisierung und Berührungsängsten von Seiten der Gesellschaft zu kämpfen. Welche Beweggründe stehen hinter Ihrem Engagement auf diesem Themengebiet?

Auer: Von Beginn an hat mich vor allem das Potenzial der betroffenen Personen fasziniert. Ein Schlüsselerlebnis hatte ich während meiner Zeit als Psychologin an der New York University. Damals herrschte eine geradezu nihilistische und rein medizinisch-diagnostische Sichtweise auf dieses Krankheitsbild vor. Die Diskrepanz zwischen medizinischer und psychologischer Diagnostik war enorm. Aus psychologischer Perspektive betrachtet, war für mich eindeutig, dass Menschen mit Demenzerkrankungen keinesfalls als unfähig oder persönlichkeitslos abzustempeln sind. Betroffene werden nach wie vor viel zu oft in eine Kategorie eingeordnet, die ihnen ihre Kompetenzen abspricht und ihnen keinesfalls gerecht wird — ganz im Gegenteil. Es hat mich fasziniert, wie ressourcenreich Menschen mit Demenz weiterhin agieren und reagieren können, wenn das Umfeld nur die Möglichkeiten dazu bietet. Im Rahmen einer Studie konnten wir den Effekt eines positiven Gesprächsklimas belegen: Dank Empathie und zwischenmenschlicher Wertschätzung gelang uns ein besserer Zugang zu den Patientinnen und Patienten. Wir alle haben das grundlegende Bedürfnis, von unserem Umfeld auf wertschätzende und mitfühlende Art und Weise behandelt zu werden. Wir alle haben das Recht auf Selbstbestimmung, auf eine möglichst lange berufliche und vor allem soziale Teilhabe. Diese nicht-pharmakologischen therapeutischen Überlegungen und Interventionen waren die ursprünglichen Beweggründe für meine Arbeit auf diesem Gebiet — und sie begleiten mich bis heute.

Wie haben Sie Ihre Vision umgesetzt und worauf sind Sie besonders stolz?

Die Implementierung der Demenzservicestellen war für mich ein besonderes Highlight. Denn Menschen, die ganz am Anfang einer Demenz stehen, wünschen sich vor allem eines: Gewissheit. Sie wollen wissen, was sie erwartet und wie sie mit den bevorstehenden Veränderungen umgehen können. Anhand der Demenzservicestellen hat sich gezeigt, dass Betroffene, die bereits in einem frühen Stadium entsprechende Unterstützung und Aufklärung erfahren, eine Diagnose schlussendlich besser verarbeiten können. Demenzerkrankungen beginnen meist mit milden Symptomen und progredieren Schritt für Schritt bis in die schwersten Stadien. Die Zeit bis dorthin ist allenfalls zu nutzen, um die Kompetenz und Selbstbestimmtheit der Menschen möglichst lange aufrecht zu erhalten.

Demenzforscherin Stefanie Auer im Gespräch mit Johannes Oberndorfer, Executive Consultant der PERI Group

offener Menschen hat mich von Beginn an fasziniert.

75 Prozent der weltweit von Demenz betroffenen Personen haben laut Alzheimer’s Disease International (ADI) keine Diagnose. Wird in Östereich aktuell ausreichend, beziehungsweise früh genug diagnostiziert?

Österreich reiht sich in punkto Diagnoseraten im Europavergleich in die mittlere Kategorie ein. Im ländlichen Bereich werden etwa 20 Prozent, im städtischen Bereich etwa 30 Prozent der Betroffenen diagnostiziert. Fakt ist: Hätten die genannten 75 Prozent der weltweit Betroffenen eine Diagnose, wären die medizinischen Einrichtungen nach derzeitigem Stand mit der Versorgung heillos überfordert. Aktuell ist das Gesundheitssystem nicht adäquat auf die steigenden Demenzzahlen vorbereitet. Es mangelt an Aufklärung im Vorfeld einer Diagnose und letztlich auch an medizinischen Strukturen, die eine solche anbieten können. In Wien wartet man auf einen Diagnostiktermin etwa sechs Monate. Das ist sehr lange — vor allem wenn man sich die psychische Belastung der Menschen mit Verdacht auf eine Demenzerkrankung während der Wartezeit vor Augen führt. Zudem hat eine Umfrage von ADI ergeben, dass ganze 95 Prozent der Gesamtbevölkerung sich vor einer Demenzdiagnose fürchten. Daher braucht es niederschwellige Anlauf-stellen für Leute, die sich Sorgen um ihre Gehirngesundheit machen. Die Gesundheitssysteme müssen auf diese Menschen reagieren, sie ernst nehmen und ihnen zuhören.

Alzheimer und Demenz sind eher negativ behaftete Begriffe, während die Gehirngesundheit positive und präventive Aspekte impliziert. Wie stehen Sie zur derzeitigen Kommunikationsweise?

Es wäre bereits viel damit gewonnen, negativ konnotierte Begriffe durch positive sprachliche Bilder — wie etwa jenes der Gehirngesundheit — zu ersetzen. Es braucht Health Literacy auf Basis einer motivierenden Kommunikation gegenüber der Bevölkerung. Denn durch einen gesunden Lebensstil können die Menschen aktiv zu ihrer Gehirngesundheit beitragen. Obgleich das Alter der größte Risikofaktor im Hinblick auf eine Demenzerkrankung ist, leiden auch viele junge Menschen darunter. Konkret sind laut epidemiologischer Untersuchungen etwa acht Prozent aller von Demenz betroffenen Menschen unter 65 Jahre alt. Junge Menschen haben nun aber andere Bedürfnisse, befinden sich mitten im Berufsleben, in der Familienplanung oder haben kleine Kinder. Daher ist es essenziell, den unterschiedlichen Lebenswelten der Menschen im Rahmen der Vorsorge- und Versorgungsstrukturen Rechnung zu tragen.

Zudem wäre es wichtig, das Thema Demenz in alle Berufsgruppen und Bevölkerungsschichten mit einzubinden. Vor einigen Jahren wurde etwa bei der Polizei erfolgreich ein Projekt ins Leben gerufen, um Polizistinnen und Polizisten im Berufsalltag fitter im  Umgang mit von Demenz und Alzheimer betroffenen Personen zu machen, diese als solche zu erkennen und auch Amtshandlungen entsprechend zu adaptieren. Dank derartiger bewusstseinsbildender Maßnahmen erreicht man letztlich eine gesteigerte Wertschätzung im Umgang miteinander. Sensibilisierung und Expertise sind auch im Zuge der Ausbildung von Medizinerinnen sowie Medizinern und allen Berufsgruppen im Gesundheitswesen gefragt. Vor allem Hausärztinnen und Hausärzte, die in vielen Fällen die erste Anlaufstelle für Menschen, die sich Sorgen um ihr Gedächtnis machen, sind, nehmen eine zentrale Rolle bei der Erkennung beginnender kognitiver Defizite ein. Der Mangel an zeitlichen Ressourcen, aber auch fehlende Strukturen führen aktuell häufig dazu, dass besorgte Menschen und deren Angehörige nicht ausreichend angehört und Diagnosen somit zeitverzögert oder schlimmstenfalls gar nicht gestellt werden.

Wie verläuft die interdisziplinäre und multiprofessionelle Zusammenarbeit im Hinblick auf Diagnose und Therapie in Österreich als föderalistisch strukturiertes Land?

Gerade, wenn es darum geht, Menschen mit Demenz in den einzelnen Krankheitsphasen optimal und bedürfnisgerecht zu versorgen, spielt die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Medizin und allen alle anderen nicht-pharmakologischen therapeutischen Feldern eine große Rolle. Die Österreichische Demenzstrategie sammelt derzeit „Best-Practice-Modelle“ — diese sollten auf ihre Wirksamkeit geprüft und bundesweit umgesetzt werden. Allerdings wäre es wichtig, Best-Practice-Modelle vor den Vorhang zu holen und diese gemeinsam entlang wissenschaftlicher Kriterien zu evaluieren. Zusätzlich braucht es eine klare Definition gemeinsamer Ziele. Großes Potenzial sehe ich in der Analyse von Diagnosezahlen und Nachbetreuungsmaßnahmen. In diesem Kontext wäre es sinnvoll, Leuchtturmprojekte ins Leben zu rufen. Man könnte etwa anhand eines Kriterienkatalogs klare Maßnahmen zur Steigerung der Diagnosezahlen festlegen, diese evaluieren und anschließend österreichweit ausrollen. Auch die Demenzservicestellen ließen sich auf Bundesebene ausweiten und könnten eine standardisierte niederschwellige Grundversorgung bieten.

Wäre es eine Option, die Demenzservicestellen im Zuge der Ausweitung der Primärversorgungszentren (PVE) mitzudenken?

Das wäre eine großartige Möglichkeit, bereits bestehende Strukturen adäquat zu nutzen und die interdisziplinäre Zusammenarbeit optimal zu stärken. Man muss das Rad nicht immer neu erfinden. Eine wohnortnahe und niederschwellige Grundversorgung erfordert allerdings Organisation und Koordination — diese muss das Gesundheitssystem den Familien abnehmen.

Welche Maßnahmen liegen Ihnen besonders am Herzen, um die Bedeutung der Gehirngesundheit im Gesundheitssystem zu stärken?

Eine Demenzdiagnose kommt derzeit einem Urteil gleich. Durch einen stärkeren Fokus auf die frühen Stadien einer kognitiven Verschlechterung, könnte man nicht nur die medizinischen Parameter optimieren, sondern auch die Familien besser auffangen. Auf diese Weise gibt man den Familien die Möglichkeit, ihre Kräfte zu mobilisieren und die erforderlichen logistischen sowie organisatorischen Strukturen zeitgerecht aufzubauen. Die medizinische Diagnose wird dann als weniger starker Einschnitt erlebt. Im Vorfeld der Diagnose sollte ein positives Lebenskonzept mit dem Betroffenen und den Angehörigen erarbeitet werden. Oberösterreich ist hier mit der Implementierung der Demenzservicestellen in das Kassensystem einen mutigen Weg gegangen. Eine Option mit vermutlich großem Effekt wäre auch, die Gehirngesundheit im Zuge von ein bis zwei Fragen in die routinemäßige Vorsorgeuntersuchung mit aufzunehmen, um mehr Bewusstsein bei den Menschen zu erzeugen — und zwar noch bevor eine etwaige Demenzerkrankung mit voller Wucht einschlägt.

Stefanie Auer über die Bedeutung einer gesteigerten Awareness in punkto Gehirngesundheit

Nun leben wir seit knapp zwei Jahren inmitten einer Pandemie. Viele Menschen leiden unter Einsamkeit, Depressionen oder Schlafstörungen. Inwiefern wirken sich psychische Gegebenheiten und Schlafmangel auf eine Demenzerkrankung aus?

Schlafstörungen können laut rezenter neuropsychologischer Untersuchungen in direktem Zusammenhang mit Demenz stehen. So gelten etwa Schlafspindeln, plötzliche Ausbrüche oszillierender Gehirnaktivität, als potenzielle Biomarker für eine durch Alzheimer bedingte Demenz. Im Rahmen zahlreicher Studien konnte vor allem auch Einsamkeit als Risikofaktor belegt werden. Gerade die Coronapandemie hat verdeutlicht, dass Isolation und in weiterer Folge Depression zu einer Verschlechterung der Demenzsymptomatik führen können. Aus diesem Grund sollten insbesondere Austausch und Vernetzung der Betroffenen und ihrer Familien im Rahmen von Selbsthilfegruppen gefördert werden — auf stadien- und bedürfnisgerechte Weise. Hier schließe ich den Kreis: Die Gesellschaft aber auch die Wissenschaft müssen lernen, Menschen mit Demenz besser zuzuhören und sie nicht automatisch in ein Schema hineinzupressen. Es braucht lebensbejahende, positive und motivierende Kommunikations- und Umgangsformen, um Betroffenen und ihren Familien die Chance zu geben, sich zeitgerecht auf den Weg zu machen und sich dieser neuen Lebensaufgabe zu widmen. Denn die meisten Familien wollen ihre Lieben pflegen und begleiten. Um ihr Potenzial tatsächlich auszuschöpfen, benötigen sie jedoch die Unterstützung und Wertschätzung der gesamten Gesellschaft.

© Peter Hautzinger

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