Die Physiotherapie ist die drittgrößte Berufsgruppe im österreichischen Gesundheitssystem. PERISKOP sprach mit der Präsidentin Constance Schlegl, MPH und Geschäftsführer Mag. Stefan Moritz von Physio Austria über die Aufgaben, Möglichkeiten, Rahmenbedingungen und Ziele der Physiotherapie.
Rainald Edel, MBA
Periskop-Redakteur
Physio Austria, der Bundesverband der Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten Österreichs, wurde 1961 gegründet und ist eine freiwillige berufsständische Interessensvertretung, die als
Verein organisiert und mit Landesverbänden in allen Bundesländern vertreten ist.
PERISKOP: Was leistet die Physiotherapie?
Schlegl: Mit rund 17.000 Berufsangehörigen ist die Physiotherapie nach der Ärzteschaft und
dem Pflegepersonal die drittgrößte Berufsgruppe im österreichischen Gesundheitswesen. Davon sind rund 6.500 auch Mitglied bei Physio Austria. Als gesetzlich geregelter Gesundheitsberuf gibt es seit einigen Jahren eine verpflichtende Registrierung der Berufsangehörigen.
Wir wissen nicht, wie viele physiotherapeutische Leistungen tatsächlich im intramuralen Bereich erbracht werden. Genauere Zahlen liegen uns aber für den extramuralen Bereich auf Grund der Daten der Sozialversicherungen vor. Demnach werden in Österreich insgesamt pro Woche zwischen 400.000 und 600.000 physiotherapeutische Leistungen erbracht. Nicht enthalten sind hier Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge und Prävention oder von Physiotherapeutinnen und -therapeuten, die in der Arbeitsmedizin, in Schulen, Kindergärten oder sonderpädagogischen Einrichtungen tätig sind.
Moritz: Physiotherapeutinnen und -therapeuten behandeln Patientinnen und Patienten sowohl
im ambulanten als auch im stationären Setting sowie aufsuchend, im Rahmen von Hausbesuchen. Physiotherapie ist in allen Lebenslagen und allen medizinischen Disziplinen relevant und findet ihren Niederschlag. Gerade in der Rehabilitation aber auch in der Prävention können wir einen großen Beitrag leisten. Gerade im Zusammenhang mit COVID-19 und Long-COVID waren viele Kolleginnen und Kollegen oft bis an ihre Leistungsgrenzen tätig.
Wie ist die standespolitische Vertretung der Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten organisiert?
Schlegl: Obwohl die Physiotherapie ein gesetzlich anerkannter Gesundheitsberuf ist, hat sie – im Gegensatz zu allen anderen gesetzlich geregelten freien Berufen – keine gesetzliche
Standesvertretung. Es scheitert seit langer Zeit am politischen Willen, das zu ändern. Eine
gesetzliche Interessensvertretung muss man einbinden – wir sind bei der Teilnahme an relevanten Besprechungen und Projekten für die Berufsgruppen in die Rolle des Bittstellers gedrängt worden. So erlangten uns beispielsweise relevante Informationen bezüglich der COVID-Pandemie nur schleppend und zögerlich. Gesetzliche Vertreter wurden hier priorisiert.
Anders war es dann am Beginn der Pandemie, als es darum ging Schutzausrüstung für die
Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten zu verteilen, da wurde im ASVG festgelegt,
dass Berufsverbände dazu verpflichtet sind diese zu tragen – so auch wir. Folglich haben wir
innerhalb kürzester Zeit eine Logistik hochgezogen, mit der wir alle 16.000 Berufsangehörigen mit Schutzausrüstung versorgen konnten, und das für die Behörden unentgeltlich.
Moritz: Dass wir nicht den Status einer gesetzlichen Interessensvertretung haben, ist sicherlich ein großes Hindernis. Daher ist es unser Wunsch und Ziel, die Physio Austria als die gesetzliche Interessenvertretung der Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten zu implementieren. Ob das nun in Form eines Gremiums, ähnlich wie bei den Hebammen oder in Form einer Kammer wie bei Ärztinnen und Ärzten sowie Apothekerinnen und Apothekern, ist – darüber lässt sich sprechen. Die Physio Austria würde die dafür nötigen strukturellen Voraussetzungen bereits erfüllen. Wir sind ähnlich organisiert, wie es beispielsweise die Ärztekammer ist, mit den entsprechenden Strukturen in den Bundesländern und verfügen über den nötigen Personalstand. Mit ihren fachlichen Netzwerken gibt die Physio Austria das breite Spektrum des Berufsbilds wieder, das von der Pädiatrie bis zur Geriatrie über alle Lebenssituationen reicht. Aber auch moderne Tools, wie die Telerehabilitation, die assistierenden Systeme und DIGAS werden so abgebildet, ebenso wie unser jüngstes Netzwerk, das Netzwerk Primärversorgung – da dies eine sehr zukunftsweisende Versorgungsform ist.
Ein großer Meilenstein, war die bundesweite Einführung der Rahmenverträge und
Kassenvertragsstellen im vorigen Jahr. Wie läuft der Ausbau?
Schlegl: Wir stehen im laufenden Austausch mit der ÖGK über Ausschreibungen und haben bislang rund 60 Prozent der Planstellen besetzt. Das war auch das Ziel, das wir uns für das erste Jahr Rahmenvertrag gesetzt haben. Mittlerweile haben wir Rahmenverträge mit der ÖGK, SVS und BVAEB. Mit der KFA werden wir Anfang des nächsten Jahres in Gespräche eintreten. Viele Kassenstellen sind noch unbesetzt, allerdings ist das von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. So haben wir in Niederösterreich und der Steiermark eher zögerliche Anfragen nach Verträgen. Allerdings sind das auch jene Bundesländer, in denen es bislang überhaupt kein Kassenvertragssystem gegeben hat. In Vorarlberg und Oberösterreich, Bundesländern mit einer langen Vertragstradition, gibt es wiederum hohe Nachfrage und Auslastung der Planstellen.
Bezüglich der tariflichen Abgeltung konnte eine tragfähige Lösung gefunden werden. Diese
liegt ab 2023 bei rund 67 Euro pro Stunde im Vertragsbereich. Das sind gegenüber heuer ein
Umsatzplus von rund 11.000 Euro bei einem Vollvertrag. Die Verträge werden jährlich
automatisch angepasst. Mit einem Kassenvertrag der ÖGK ist ein privater Zuverdienst durch die Behandlung ÖGK Versicherter nicht möglich, sehr wohl kann man aber die anderen SV-Träger als Wahltherapeutin bzw. -therapeut behandeln. Man kann auch zugleich in einem Angestelltenverhältnis tätig sein. Ebenso wie Tätigkeiten in der Gesundheitsförderung möglich sind. Was nicht geht, ist, dass man gleichzeitig Wahl- und Kassentherapeutin bzw. -therapeut für den gleichen Träger ist.
Was ist in der Weiterbildung wichtig?
Schlegl: Wir haben in Europa eine uneinheitliche Ausbildungs- und Berufseintrittsvoraussetzung, das reicht von einem Fachschulabschluss über das Bachelor-Level bis zum Masterabschluss. In Österreich erfolgt die Ausbildung als dreijähriges Bachelorstudium an Fachhochschulen. Ich vertrete Physio Austria in einer Arbeitsgruppe, die zusammen mit der EU-Kommission an der Homogenisierung von Berufsabschlüssen arbeitet. Das ist ein Langzeitprojekt, da Gesundheit zum einen in die nationalen Hoheitsaufgaben fällt und zum anderen die Curricula so unterschiedlich sind und sich ständig ändern. Es gibt eine sehr hohe Migrationsbewegung
in den Beruf, vor allem aus Deutschland, da Österreich als Arbeitsplatz in diesem Bereich
hoch attraktiv ist. Bislang gelten Masterabschlüsse im Bereich Physiotherapie als Weiterbildung und müssen aus eigener Tasche bezahlt werden. Wir brauchen in Österreich daher dringend konsekutive Masterstudiengänge für Physiotherapie und eine wissenschaftliche Durchgängigkeit bis zum PhD. Ohne solche wird es für unsere Berufsangehörigen schwierig, international wettbewerbsfähig zu bleiben. Zudem braucht es in Österreich, wie es in anderen Ländern üblich ist, einen eigenen Lehrstuhl für Physiotherapie.
Ein Bereich, der Physio Austria ein großes Anliegen ist, ist die Prävention. Wo kann
dabei die Physiotherapie helfen?
Schlegl: Durch die Novelle des Arbeitnehmerschutzgesetzes und die damit verbundene Erweiterung der arbeitsmedizinischen Fachassistenz können bis zu 30 Prozent der Tätigkeiten
in der Arbeitsmedizin von definierten anderen Berufsgruppen, wie Physiotherapeutinnen und
-therapeuten erbracht werden. Wir sind aktuell mit einer österreichischen Institution aus dem
Bereich Arbeitsmedizin in Ausarbeitung eines flächendeckenden Kooperationsprogramms, um unsere Leistung in diesem Segment noch stärker anzubieten.
Moritz: Zur Prävention braucht es auch die entsprechende Finanzierung der Gesundheitsförderung. Dazu bräuchte es ein Gesundheits- und Bewegungslernen, das im frühen
Kindesalter angesetzt wird. Hier muss vermittelt werden, dass Bewegung ein ganz zentraler
Aspekt des Lebens ist und in Bewegung bleiben und sich bewegen können in allen Lebensbereichen und Settings – ob im Verkehr, im Alter, bei der Sturzprävention oder im Zusammenhang mit Mobilität am Lebensende in der Palliativversorgung, wo die Physiotherapie ebenfalls einen wesentlichen Beitrag leisten kann. Damit man auch diesen letzten Lebensabschnitt in einer würdigen Art und Weise erleben kann.
Schlegl: Deshalb fordern wir, dass die Physiotherapie als standardisiertes Screening im Eltern-Kind-Pass verankert werden soll. Das fängt schon bei Neugeborenen an in Bezug auf deren Bewegungsverhalten und motorische Entwicklung. Wenn es so einen Gesundheits-Check geben würde, wo jedes Kind zu bestimmten definierten Punkten zur Entwicklung aus funktioneller, physiotherapeutischer Sicht betrachtet wird, könnte man viel Gutes bewirken und früh Schädigungen vermeiden. Einen Entwurf, wie so ein Screeningplan ausschauen sollte, gibt es von Seiten der Physio Austria fertig ausgearbeitet. Wir wissen, dass speziell Kinderärztinnen und -ärzte mit Kassenordinationen sehr belastet sind und wir könnten hier einen Beitrag leisten, der das gesamte System entlasten würde.
Lesen Sie diesen und weitere Artikel in voller Länge in unserem Print-Magazin und abonnieren Sie PERISKOP gleich online.