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ÖGK: Gesundheitsversorgung zukunftsfit machen

© KATHARINA SCHIFFL

ÖGK: Gesundheitsversorgung zukunftsfit machen

© KATHARINA SCHIFFL

Die durch die Coronapandemie hervorgerufene Ausnahmesituation im Gesundheitssystem ist weitgehend überwunden. Die letzten drei Jahre haben einige Schwachstellen im System aufgezeigt. Um die Gesundheitsversorgung fit für die Zukunft zu machen, gilt es diese Punkte in Angriff zu nehmen. PERISKOP sprach mit Andreas Huss, MBA, Obmann-Stellvertreter der ÖGK über eine Stärkung der Allgemeinmedizin und die Forderungen der Sozialversicherungen in den anstehenden Finanzausgleichsverhandlungen.

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Rainald Edel, MBA

Periskop-Redakteur

Bis Ende 2023 sollen die Finanzausgleichsverhandlungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden abgeschlossen werden. Ein wesentliches Kapitel dabei ist der Gesundheitsbereich.
Auch wenn die Krankenkassen bei diesen Gesprächen normalerweise keine Verhandlungspartner sind, wurde ihnen zugesichert, diesmal eingebunden zu sein. Der Grund: Gesundheitsminister Johannes Rauch kündigte an, über den Finanzausgleich auch eine umfassende Gesundheitsreform angehen zu wollen.

PERISKOP: Die solidarische Gesundheitsversorgung droht aus dem Ruder zu laufen. Spitalsambulanzen sind überlaufen, Gemeinden suchen händeringend eine ärztliche Versorgung vor Ort und im Facharztsektor gibt es immer mehr Privat- und Wahlarzt- statt Kassenordinationen. Wo muss man Ihrer Meinung nach ansetzen, um diese Entwicklung zu stoppen?

Huss: Die Allgemeinmedizin muss wieder das Fundament des österreichischen Gesundheitssystems werden. Bei Menschen mit Long COVID-Symptomen konnte man etwa beobachten, dass diese oft planlos und unkoordiniert durch den Gesundheitsbereich stolperten und eine Odyssee hinter sich hatten, bis sie zu einer Diagnose und einer entsprechenden
Behandlung kamen. Das zeigt, wir lassen die Menschen im Gesundheitssystem zu sehr allein. Das ist teuer, ineffizient und vor allem für die Menschen mühsam und ungesund. Aus diesem Grund muss die Allgemeinmedizin – so wie in der Zeit vor Einführung der e-card – wieder als Navigator durch das Gesundheitssystem stärker in den Vordergrund gerückt werden. Meine Vision ist ein Gesundheitssystem in dem jede Person, die das Gesundheitssystem in Anspruch nimmt, eine Hausärztin oder einen Hausarzt hat, die bzw. der sie durch das Gesundheitssystem lotst. Es ist auch effizient, denn eine Hausarztpraxis kann acht von zehn Problemen, die die Patientinnen und Patienten haben, vor Ort final erledigen. In Primärversorgungseinheiten (PVE)
liegt diese Quote sogar noch höher, weil andere Gesundheitsberufe hier mitwirken. Nur für die
restlichen zehn bis 20 Prozent braucht es dann Fachärztinnen und -ärzte sowie Spitals- und
Spezialambulanzen. Daher ist für mich die Allgemeinmedizin die Königsdisziplin in der
Gesundheitsversorgung. Denn sie beschäftigt sich nicht nur mit einem Teilgebiet der Medizin
oder einem Organ, sondern betrachtet den Menschen ganzheitlich in seinem sozioökonomischen Umfeld. Hausärztinnen und Hausärzte kennen typischerweise das berufliche und familiäre Umfeld, welche Schwierigkeiten es gibt, Pflegbedarf und andere Faktoren.  

Wie soll eine solche Transformation ablaufen?

Dazu brauchen wir mehr Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmediziner. Derzeit haben wir im Schnitt ein Betreuungsverhältnis von 1:2.000. In Ländern, mit einer stark allgemeinmedizinisch orientierten Gesundheitsversorgung liegt der Schlüssel bei 1:1.600. Das heißt für mich, dass wir mehr Personen in der Allgemeinmedizin brauchen und diesen Sektor auch entsprechend stärken müssen. Stärken müssen wir vor allem die Primärversorgung. Mitte Jänner wurde das zehnte Primärversorgungszentrum (PVZ) in Wien eröffnet, womit es derzeit 40 in ganz Österreich gibt. Da haben wir noch viel zu tun. Gerade in Ballungszentren können Menschen mit PVZ wesentlich besser versorgt werden als mit Einzelordinationen. Das wird nicht
überall funktionieren. In dünn besiedelten Regionen werden wir kein PVZ errichten – hier wird
auch weiterhin die Versorgung durch die Praxis einer Allgemeinmedizinerin, eines Allgemeinmediziners erfolgen. Deshalb müssen wir unseren Stellenplan überarbeiten und gemeinsam mit der Ärztekammer schauen, dass wir zu mehr Stellen kommen – sowohl in PVE als auch in der Versorgung der ländlichen Regionen.

Allerdings zeigt sich, dass manche Gemeinden oft Monate lang eine Ärztin, einen Arzt suchen – mehr Stellen heißt ja nicht automatisch mehr besetzte Stellen. Wie wollen Sie hier vorgehen?

In den Regionen, in denen wir trotz intensiven Bemühungen niemanden finden, brauchen wir
alternative Versorgungsformen. So unterstützen wir als ÖGK mit dem sogenannten „Sorglos-Paket“ beispielsweise Ärztinnen und Ärzte, die aus wirtschaftlichen Bedenken keine eigene Ordination aufmachen wollen. In diesen Fällen stellen wir die Infrastruktur inklusive Ordinationshilfen, Abrechnung etc. zur Verfügung, sodass sich die Ärztin, der Arzt nur mehr einmieten und die medizinische Leistung erbringt muss. Alternativ möglich ist, dass wir selbst die Ordination als Ambulatorium betreiben und Ärztinnen und Ärzte anstellen. Es gibt, wie man sieht, mittlerweile vielfältige Möglichkeiten der Beschäftigung, die auf die veränderten Rahmenbedingungen, unter denen Ärztinnen und Ärzte arbeiten wollen, Rücksicht nehmen. 

Im Vorjahr gab es immer wieder Vorstöße die Anzahl der Gründungsmitglieder für ein PVE zu reduzieren bzw. auch andere Gesundheitsberufe als Gründungsmitglieder zuzulassen. Ist das eine Stellschaube, über die man nachdenken müsste?

Das PVE-Modell ist ein ausgeklügeltes System, das helfen soll, Spitalsambulanzen zu entlasten.
Daher sieht das Konzept die Zusammenarbeit mehrerer Ärztinnen und Ärzte sowie längere
Öffnungszeiten mit einer Betreuung in den Früh- und Abendstunden und am Samstagvormittag
vor. Dass aber Ärztinnen und Ärzte generell stärker mit anderen Gesundheitsberufen zusammenarbeiten müssen und sollen, ist unstrittig. Die meisten Hausarztpraxen haben daher bereits ebenfalls ein Netzwerk mit anderen Gesundheitsberufen, die allerdings dann nicht über die Praxis wie beim PVE abrechnen, sondern direkt mit uns. Drei Ärztinnen bzw. Ärzte als Gründungsmitglieder sind die Zielvorstellung, aber wenn jemand den Wunsch und das Engagement hat ein PVE zu gründen, dann unterstützen wird das, auch wenn noch nicht alle Punkte formal erfüllt sind. So haben wir auch schon PVEs mit zwei bzw. 2,5 Ärztinnen und Ärzten zur Gründung zugelassen. Der Vorstoß zum PVE Gesetz, wonach auch andere Gesundheitsberufe mit Ärztinnen und Ärzten ein PVE gründen können, findet prinzipiell unsere Zustimmung. Auch, dass die Ärztekammer bei der Errichtung eines PVE kein so starkes Vetorecht mehr hat, wird Gründungen leichter machen. 

Nicht nur in der allgemeinmedizinischen Versorgung gibt es Probleme. Ganz besonders schwierig ist die Lage in der Kinder- und Jugendheilkunde. Welche Pläne verfolgt die ÖGK in diesem Bereich, um die Versorgung durch Kassenordinationen wieder zu verbessern?

Bei den Kinderärztinnen und -ärzten haben wir ein Problem in der Ausbildung – es wählen
zu wenige Medizinabsolventinnen und -absolventen dieses Fach. Hier muss man ebenso wie in der Allgemeinmedizin darüber nachdenken, wie wir nicht nur mehr, sondern vor allem die richtigen Personen ins Medizinstudium bekommen, die im öffentlichen Gesundheitswesen arbeiten wollen. Wir haben im Jahr 17.000 Bewerbungen für das Medizinstudium an öffentlichen Universitäten und 2.000 Stellen, die wir vergeben. Wir lassen somit 15.000 Personen, die sich für das Studium interessieren zurück – das ist fatal, wenn wir gleichzeitig in
vielen Fächern zu wenig Interesse haben. Die Idee wäre, dass man für die 2.000 Studienplätze
– ich glaube, wir bräuchten 3.000 – zuerst jene zum Aufnahmetest zulässt, die sich verpflichten, dem öffentlichen System zur Verfügung zu stehen. Diese bekommen zwei Drittel der Plätze. Der Rest steht dann jenen zur Verfügung, die sich nicht verpflichten möchten. Wobei die Qualitätskriterien in allen Fällen gleich sein müssen.

Das zweite ist das Maß der Inanspruchnahme bei Kinderärztinnen und -ärzten. So geht man
beispielsweise in Wien mit jeder Erkrankung und jedem Anliegen bis zum 16. Lebensjahr zur
Kinderärztin oder zum Kinderarzt. In Salzburg beispielsweise ist das völlig unüblich. Wir müssen zudem die Hotline 1450 wieder reaktivieren, die ursprünglich als niederschwelliger Zugang ins Gesundheitssystem gegründet wurde. Da müssen wir entsprechende Kampagnen starten, um 1450 wieder in ihrer eigentlichen Funktion ins Gedächtnis der Menschen zu bringen. Wir müssen in diesem Zusammenhang auch die Videovisite „visite-e“ wieder stärker bewerben. Ärztinnen und Ärzte können darüber genauso ihre Leistung abrechnen, wie einen Besuch in der Ordination. Auch über diesen Weg versuchen wir besser zu betreuen.

Es finden zurzeit die Finanzausgleichsverhandlungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden statt, zu denen die Sozialversicherungen in Form des Dachverbandes erstmals eingeladen sind. Mit welchen Positionen wird hier verhandelt?

Mir ist wichtig, dass wir beim Finanzausgleich nicht nur über die Aufteilung des Geldes reden,
sondern auch über strukturelle Fragen sprechen. Das heißt, wie können wir im Dreigestirn
Bund-Länder-Sozialversicherung strukturelle Verbesserungen schaffen, die bei der Bevölkerung zu einer Erleichterung führen und das Gesundheitssystem auch ein Stück weit entlasten. Dazu gibt es von Seiten der Sozialversicherung fünf konkrete Vorschläge:

  • Die Sozialversicherungen finanzieren zurzeit rund 50 Prozent der Spitalskosten, die
    anderen 50 Prozent kommen aus den Mitteln von Bund, Ländern und Gemeinden.
    Da eine Finanzierung aus einer Hand nicht absehbar ist, schlagen wir vor, dass wir
    jenen Bereich übernehmen, für den wir unmittelbar zuständig sind: den ambulanten
    Bereich. Der stationäre Bereich verbleibt weiterhin bei den Ländern. Der Vorteil
    wäre, dass die Sozialversicherungen planen könnten, welche Leistungen der niedergelassene Kassenbereich und welche der spitalsambulante Bereich anbieten soll. Es wird dadurch auch leichter möglich, Therapien am „best point of care“ anzubieten. Erfreulicherweise zeichnet sich schon jetzt ab, dass mehr Steuergeld in den Ausbau der ambulanten Versorgung kommen soll. Dieses Geld muss aber in die Gesundheitskasse fließen. Damit kann dann im Rahmen der Bundesund Landeszielsteuerung die ambulante Versorgung in den Bundesländern gemeinsam mit den Ländern geplant und umgesetzt
    werden. Ziel ist es damit den Ausbau der PVEs, selbstständiger Ambulatorien, dislozierte Spitalsambulanzen, Erstversorgungsabmulanzen, Facharztzentren, psychosoziale Versorgungszentren und eigene Einrichtungen der ÖGK zu finanzieren.

  • Die Sozialversicherungen finanzieren zurzeit rund 50 Prozent der Spitalskosten, die anderen 50 Prozent kommen aus den Mitteln von Bund, Ländern und Gemeinden. Da eine Finanzierung aus einer Hand nicht absehbar ist, schlagen wir vor, dass wir jenen Bereich übernehmen, für den wir unmittelbar zuständig sind: den ambulanten Bereich. Der stationäre Bereich verbleibt weiterhin bei den Ländern. Der Vorteil wäre, dass die Sozialversicherungen planen könnten, welche Leistungen der niedergelassene Kassenbereich und welche der spitalsambulante Bereich anbieten soll. Es wird dadurch auch leichter möglich, Therapien am „best point of care“ anzubieten. Erfreulicherweise zeichnet sich schon jetzt ab, dass mehr Steuergeld in den Ausbau der ambulanten Versorgung kommen soll. Dieses Geld muss aber in die Gesundheitskasse fließen. Damit kann dann im Rahmen der Bundesund Landeszielsteuerung die ambulante Versorgung in den Bundesländern gemeinsam mit den Ländern geplant und umgesetzt werden. Ziel ist es damit den Ausbau der PVEs, selbstständiger Ambulatorien, dislozierte Spitalsambulanzen, Erstversorgungsabmulanzen, Facharztzentren, psychosoziale Versorgungszentren und eigene Einrichtungen der ÖGK zu finanzieren.

  • Die Sozialversicherungen kaufen Medikamente in der Höhe von vier Mrd. Euro ein.
    Die Spitäler kaufen über die neuen Landesgesellschaften gesondert Medikamente um
    rund eine Mrd. Euro ein. Die Idee wäre, den Medikamenteneinkauf zu zentralisieren
    und dadurch eine bessere Marktsituation, einen besseren Überblick und mehr Gewicht in Verhandlungen zu erreichen. Wenn wir den spitalsambulanten Bereich mit übernehmen, dann kaufen wir die notwendigen Medikamente ein und geben sie dort ab, wo es für die Betroffenen optimal ist. 

  • Durch das fragmentierte System in Österreich haben wir mit Gesundheitskassen, Pensionsversicherung, Bundessozialamt und der Sozialhilfe vier Stellen, die Heilbehelfe
    und Hilfsmittel abgeben. Wir schlagen zur Vereinfachung eine One-Stop-Lösung vor.
    Die ÖGK fungiert dabei als Erstanlaufstelle, bei der die Anträge eingebracht werden und
    die Bewilligung erfolgt. Die Koordinierung der tatsächlichen Zuständigkeit und Finanzierungen erfolgt dann im Hintergrund ohne Zutun der betroffenen Person.

  • Es ist wichtig, nicht nur über den begrenzten Baustein Psychotherapie zu sprechen. Wir
    müssen psychosoziale Versorgung umfassender definieren – angefangen von der Psychiatrie für Erwachsene und Kinder über die Psychotherapie, die Psychologie bis zur Sozialarbeit. So sollen die Psychologinnen und Psychologen als Leistungsträger ins ASVG
    aufgenommen werden. Psychosoziale Versorgung ist ein multidisziplinäres Thema. Wir sehen, dass Menschen mit psychischen Problemen oft überfordert sind, sich einen
    Therapieplatz zu suchen oder zu einer richtigen Behandlung zu kommen. Deshalb schlagen wir vor, dass Bund, Länder und Sozialversicherungen gemeinsam in den nächsten Jahren mindestens 35 psychosoziale Versorgungszentren flächendeckend über ganz Österreich ausrollen.

  • Wir haben ein gut funktionierendes Kinderimpfprogramm, das bisher mit Ausnahme der HPV-Impfung mit dem 15. Lebensjahr endet. In Finnland lassen sich 70 Prozent aller Menschen regelmäßig impfen bzw. auffrischen. In Österreich liegt die Quote bei unter 40 Prozent. Das zeigt, dass wir hier in der Prävention noch einiges tun können. Wir brauchen daher ein Impfangebot für Erwachsene, das alle im nationalen Impfplan enthaltenen Impfungen niederschwellig verfügbar macht. Im Idealfall fallen pro Impfung Kosten in der Höhe der Rezeptgebühr an. Wir fangen heuer mit der Influenza-Impfung an und wollen dann sukzessive alle anderen Impfungen aus dem nationalen Impfplan ebenfalls integrieren. Das kostet je nach Durchimpfungsrate zwischen 300 und 500 Mio. Euro. Dieses Geld müssen wir im Rahmen des Finanzausgleiches aufstellen, um das Thema Impfen als eine der zentralen Präventionsaufgaben, die ein öffentliches Gesundheitssystem hat, endlich mal vor den Vorhang zu holen.

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