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Medizin muss menschlich bleiben

Dr. Naghme Kamaleyan-Schmied
© KRISZTIAN JUHASZ

Medizin muss menschlich bleiben

Dr. Naghme Kamaleyan-Schmied
© KRISZTIAN JUHASZ

Dr. Naghme Kamaleyan-Schmied ist Mitglied des Vorstands der Ärztekammer für Wien und niedergelassene Hausärztin mit einer Kassenordination im 21. Wiener Gemeindebezirk. PERISKOP sprach mit der streitbaren Allgemeinmedizinerin über eine medizinische Versorgung, die niemanden ausgrenzt und das Menschliche in den Vordergrund stellt.

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Mag. Dora Skamperls

PERISKOP-Redakteurin

Das Thema Wahlärztinnen und -ärzte und die immer schlechter werdende Versorgung mit Kassenmedizin ist kein Füller für das Sommerloch, sondern legt den Finger in die Wunde einer mittlerweile dramatischen Situation, die das gesamte Gesundheitssystem in seinen Grundfesten erschüttert. Die Österreichische Ärztekammer kämpft seit Langem darum, dass Ärztinnen und Ärzte gehört werden – denn wenn diese etwas mit Nachdruck fordern, ist schon lange Feuer am Dach. Naghme Kamaleyan-Schmied spricht in ihrer Funktion als Vorstandsmitglied der Ärztekammer für Wien über ihre persönlichen Erfahrungen als Kassenärztin und die Notwendigkeit, sich jetzt nicht mehr in Randthemen zu erschöpfen, sondern mit aller Kraft an einem Strang zu ziehen.

PERISKOP: Sie ließen kürzlich mit Ihrer Idee aufhorchen, Kassenordinationen durch ge­förderte Fixanstellung anderer Gesundheits­berufe zu Mini­-PVE aufzuwerten. Nun wird es ja in der Praxis bereits häufig so gelebt, dass in Kassenordinationen über externe freiberufliche Kräfte zusätzliche Leistungen angeboten werden, die den Versorgungsum­fang erheblich erweitern. Was ist der Vorteil an Ihrer Idee?

KAMALEYAN-SCHMIED: Der Vorteil ist, dass sich die Ärztinnen und Ärzte in dieses System hineintrauen würden, wenn es auch staatlich gefördert ist. Derzeit kommt es zu einer Diskrepanz zwischen den PVE, die für ihre Angestellten Geld erhalten, und den Hausarztordinationen, die dadurch im Nachteil sind. Einzelordinationen sollten genauso gefördert werden, wenn sie Nichtmedizinerinnen bzw. -medizineranstellen – um bei Tätigkeiten wie Blutabnahmen, Wundversorgung, Infusionen, Diätologie u.s.w. entlastet zu werden. So hätten wir über kürzesten Zeitraum die Möglichkeit, in ganz Österreich die bestehenden Hausarztordinationen soweit aufzuwerten, dass wir eine flächendeckende Grundversorgung erreichen – die effizienter und breiter ist als die, die wir jetzt haben. Der Vorteil aus meiner Sicht als Hausärztin ist, dass ich mit den gleichen Grundvoraussetzungen wie die PVE arbeiten kann.

Wo sehen Sie die größten Defizite am der­zeitigen Hausarztsystem aus der Sicht der Patientinnen und Patienten?

Wir sind zu wenige im Kassensystem – es gibt also nicht zu wenige Ärztinnen und Ärzte, sondern zu wenige mit einem Kassenvertrag. Es gibt kaum Kinderärztinnen und -ärzte, Dermatologinnen und Dermatologen, Gynäkologinnen und Gynäkologen – und Hausärztinnen bzw. Hausärzte. Genau diese Fächer liegen von der Bezahlung her weit hinter den anderen. Wir haben nicht mehr genug Zeit für die einzelnen Patientinnen und Patienten, und das spüren sie auch. Wir haben einerseits das Problem, dass viele junge Kolleginnen und Kollegen sich die Bewältigung dieser Masse an Patientinnen und Patienten, die auf jeden Hausarzt und jede Hausärztin kommt, nicht zutrauen. Andererseits ist eine Fünf-Minuten-Medizin auch keine befriedigende Arbeitssituation. Was ist die Lösung? Ich selbst versuche, viel zu delegieren. Ich habe Angestellte, die mir vieles abnehmen – wodurch ich mehr Zeit für meine Patientinnen und Patienten habe. Das bedeutet finanziell für mich aber einen enormen Aufwand bis hin zum Verlustgeschäft. Deshalb muss man sich ansehen, ob es in Ordnung ist, dass ein PVE staatlich gefördert wird und somit längere Öffnungszeiten und mehr Personal zur Verfügung bekommt. Das bedeutet letztlich, dass PVE in Konkurrenz zur Einzelordination treten.

COVID-19 hat alle Fehler unserer Gesellschaft bei der Gesundheitskompetenz auf- gezeigt.

Wie beurteilen Sie die Gesund­ heitskompetenz der Österreicherinnen und Österreicher?

Die Gesundheitskompetenz ist ein massives Thema. Hausärztinnen und Hausärzte leisten hier viel, aber wir können so wichtige Dinge wie die Edukation, die nebenbei passiert, nicht als Leistung abrechnen. Ich habe ein Schulprojekt gegründet– Med4School –, wo Hausärztinnen und Hausärzte bereits in der Volksschule beginnen, Kindern Gesundheitskompetenz zu vermitteln: Wofür sind Rettung oder Ärztefunkdienst zuständig, wann rufe ich wo an, was ist Rat auf Draht, was ist Krisenintervention? Wenn die Gesundheitskompetenz nicht von Anfang an gelehrt wird, tappen Menschen auch in Internetfallen. COVID-19 hat in Wahrheit alle Fehler unserer Gesellschaft in dieser Hinsicht aufgezeigt. Die Hausärztinnen und Hausärzte sollten für die wichtige Aufgabe und Leistung der Edukation entsprechend honoriert werden.

Die Bundesregierung hat mit dem Digital Austria Act auch Verbesserungen bei der Digitalisierung im Gesundheitsbereich in Aussicht gestellt. Neben Verbesserungen im Bereich der ELGA sollen auch DiGAs in Österreich Teil der Versorgung werden. Wie beurteilen Sie aus hausärztlicher Sicht diese Entwicklungen?

Prinzipiell bin ich der Meinung, dass die Digitalisierung unbedingt forciert werden muss. In Hinblick auf DiGAS sehe ich das Problem nicht bei den jungen Menschen, sondern unsere älteren Patientinnen und Patienten, von denen viele alles andere als technikaffin sind. Außerdem gibt es viele Parameter, die zu beachten sind. Ich kann nicht von jemandem, der schwer depressiv und antriebslos ist, erwarten, sich aus dem Internet eine App herunterzuladen und sich damit zu beschäftigen. Ich warne davor, alles über Apps abzuwickeln. Wir können nicht die gesamte Bevölkerung mit solchen Apps therapeutisch begleiten und versorgen. Während COVID-19 haben wir gesehen, dass der persönliche Kontakt unersetzlich ist. Auf der anderen Seite gibt es das Argument, wir hätten zu wenige Menschen, die in Gesundheitsberufen arbeiten wollen. Doch ich bin überzeugt: Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, wird das ganz anders sein. Die Politik beschäftigt sich mit solchen Randthemen, die durchaus nice to have sind – für jene, die es machen können und wollen. Aber das löst unsere Probleme nicht.

Was ELGA betrifft, hat für uns als Hausärztinnen und Hausärzte der derzeitige Funktionsumfang wenig Nutzen. Innerhalb der fünf Minuten, die ich für meine Patientin oder meinen Patienten Zeit habe, die Akte in ELGA zu öffnen und alle Daten dort durchzugehen, ist nicht machbar. Dann hätte ich gar keine Zeit mehr, mit der Patientin bzw. dem Patienten zu reden. So, wie ELGA jetzt ist, ist es für mich eher eine Belastung.

Wie stehen Sie zur europäischen Idee des Patient Summary, das als schnelle Übersicht in ELGA integriert werden soll?

Das fordert die Österreichische Ärztekammer schon lange. Ich selbst habe eine solche Kurzakte für jede und jeden meiner Patientinnen bzw. Patienten, wo ich mir handschriftlich die wichtigsten Fakten herausschreibe, und mache für jeden Befund ein kleines Summary für mich selbst. Das lese ich dann schnell quer und habe alle relevanten Informationen in Kürze vor mir.

Seitens der Politik wird das Versorgungsmo­dell PVE stark gepusht, allerdings kommt dessen Ausrollung nur zögerlich in Schwung. Gleichzeitig sind viele Hausarztpraxen un­besetzt. An welchen Stellschrauben müsste gedreht werden, um mehr Ärztinnen und Ärzte für die Arbeit in der primären Versor­gungsebene zu begeistern?

Dazu muss ich noch einmal den Begriff Primärversorgung definieren. Primärversorgung ist nicht an eine Immobilie mit 500 Quadratme- tern gebunden, sondern an die einzelne Ärztin bzw. den einzelnen Arzt. Die Patientin oder der Patient kommt zu mir, weil sie oder er von mir als Medizinerin überzeugt ist und mir vertraut. Das ist Primärversorgung. Nehmen wir an, die Politik erreicht alle ihre Ziele und wir haben morgen 120 PVE. Und nehmen wir an, jedes PVE könnte 10.000 Menschen versorgen – was de facto nicht der Fall ist. Dann hätten wir bei 120 PVE rund 1,2 Mio Menschen versorgt.

Das sind rund zehn Prozent der Bevölkerung. Wenn wir die tatsächlichen Durchschnittszahlen nehmen, kommen wir auf eine Versorgung von weniger als sieben Prozent. Es ist wunderbar, wenn wir PVE haben, besonders in Ballungsräumen. Wir diskutieren aber überproportional über eine Lösung für maximal zehn Prozent der Bevölkerung, während wir 90 Prozent im Regen stehen lassen.

Die Frage, wie wir Ärztinnen und Ärzte in die PVE bekommen, ist falsch gestellt. Wir müssen fragen, wie wir Medizinerinnen und Mediziner dazu motivieren können, als Hausärzte zu arbeiten. Das schaffen wir nur – und dann egal, in welcher Organisationsform –, wenn die Rahmenbedingungen, das Honorar passen und der bürokratische Aufwand nicht täglich drei Stunden in Anspruch nimmt. Und wenn sich nicht jeder in alles einmischt – bis hin zu meinen Öffnungszeiten. Wir sind in einem Versorgungsnotstand und gleichzeitig können junge Frauen mit Kindern keine Kassenordination eröffnen, wenn sie bspw. ausschließlich am Vormittag arbeiten wollen. Das kann es im Jahr 2023 nicht mehr geben.

Zwar wurden nun durch die Novel­le zum PVE­-Gesetz die Gründungsvoraussetzungen etwas gelockert, allerdings ist nicht davon auszugehen, dass dies der Durchbruch ist. Seitens der Wirtschaftskammer und der ÖGK wurde nun der Vorschlag eingebracht, mithilfe von Ambulatorien, die in der Grün­ dung keine ärztliche Beteiligung zwingend vorsehen, und dort angestellten Ärztinnen und Ärzten Versorgungslücken aufzufüllen. Untergräbt dies nicht die Idee der ärztlichen Selbstständigkeit und Unabhängigkeit?

Wir sehen in den Ländern, wo es solche rein am finanziellen Gewinn orientierte Ambulatorien gibt, wie zum Beispiel Großbritannien, dass die Versorgung massiv schlecht ist. Dort wartet man bis zu neun Monate auf einen Termin. Solche Institute arbeiten gewinnorientiert. Etwas, das ich als Verlustgeschäft mache, weil ich es aus Verantwortung den Patientinnen und Patienten gegenüber anbiete, wie die INR-Bestimmung, wird dort eben nicht gemacht. Das Menschliche tritt in solchen Instituten in den Hintergrund.

Seitens der Politik wird die rasante Zunahme der Wahlarztpraxen mit Sorge beobachtet und es kursieren immer wieder Ideen, wie man diese wieder in das solidarische Kran­kenkassensystem reintegrieren könnte. Mit welchen Maßnahmen und von wem sollte dieser Trend verändert werden?

Hier hat man den Blick auf das große Ganze verloren und richtet den Blick auf eine Gruppe, die maximal drei Prozent der Honorarsumme ausmacht. Ich bin persönlich sehr froh, dass wir die Wahlärzte haben, denn die Menschen, die es sich leisten können, gehen dorthin und bekommen das, was sie wollen – nämlich Zeit. Und von der ärztlichen Seite aus betrachtet, warum werde ich Wahlarzt? Ich kann als Arzt arbeiten, ich kann mir für meine Patientinnen und Patienten Zeit nehmen. Ich kann leistungsorientierte Honorare berechnen. Die Arbeit als Allgemeinmedizinerin ist großartig, aber das Rundherum ist extrem belastend. Lange Wartezeiten, Frust, lähmend langsame Bewilligungen, überbordende Bürokratie – das möchten sich viele junge Kolleginnen und Kollegen nicht mehr antun. Menschen bekommen die Sozialversicherung vom Lohn abgezogen, aber wenn sie dann eine Leistung benötigen, erhalten sie diese nicht – das erzeugt viel Bitterkeit.

Gerade dort, wo es kassenärztliche Alternativen gibt, sieht man aber dennoch, dass Patientinnen und Patienten lieber Wahlarztordinationen aufsuchen, was sind aus Ihrer Sicht die Gründe? Menschen geben für alle möglichen Dinge Geld aus – warum nicht auch für die Gesundheit?

Ich sehe viele Menschen in meiner Ordination, die keine solche Alternative haben. Armut ist real, und für viele Menschen ist es sogar schwierig, die Rezeptgebühr zu bezahlen. Wir haben auf der einen Seite Menschen, die sich fast in das Wahlarztsystem hineingezwungen sehen, da sie andernorts einfach nicht die Leistung erhalten, die sie sich wünschen – und weil sie es sich leisten können, bezahlen sie. Der andere Teil der Gesellschaft wird kaum noch beachtet. Gesundheit ist nur auf dem Papier ein Grundrecht. In der normalen Vorsorgeuntersuchung sind nicht einmal das LDL-Cholesterin und Schilddrüsenparameter dabei. Wir müssen viel mehr in der Vorsorge tun.

Wir sind in einem Versorgungsnotstand und gleichzeitig können junge Frauen mit Kindern keine Kassenordination eröffnen, wenn sie ausschließlich am Vormittag arbeiten wollen.

Bei Vorschlägen zur Optimierung des Ge­sundheitssystems bringt die Politik gerne das Argument der unterschiedlichen Zuständigkeiten bei der Leistungsabgeltung in die Diskussion ein. Das endet oft in einer Pattsituation. Aus Sicht einer Ärztin – was wären Ihre Wünsche an die Entscheidungsträger?

Sie sollen das große Ganze sehen und sich nicht in Ideen und Details verrennen, während wir die Grundversorgung nicht aufrechterhalten können. Wir hatten einmal ein ausgezeichnetes Gesundheitssystem, und ich glaube, dass unsere Grundstruktur auch immer noch hervorragend ist. Aber man muss jetzt mal gründlich renovieren. Wir brauchen frisches Geld im System, es muss adäquat bezahlt werden. Ich kann nicht mit 6,70 Euro brutto einen Patienten bzw. eine Patientin versorgen. Der Politik muss die Gesundheit so viel wert sein, wie sie den Patientinnen und Patienten wert ist – da muss man fair sein, denn wenn ein Politiker selbst beim Wahlarzt 150 Euro und mehr bezahlt, warum ist die Leistung beim Kassenarzt dann nur 6,70 Euro wert? Wenn Ärztinnen und Ärzte etwas für Ihre Patientinnen und Patienten fordern, dann hat das ja Gründe. Wenn wir wohnortnah Leistungen anbieten, ist das kosteneffizienter. Wir müssen diese notwendigen wohnortnahen Leistungen bedarfsorientiert definieren, viel genauer, als dies derzeit der Fall ist. Wenn wir Einzel-PVE ermöglichen, dann hätten wir morgen 800 PVE allein in Wien.

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