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Kritische Zeit für Österreichs Gesundheitswesen

Portrait Alexander Biach
© KRISZTIAN JUHASZ

Kritische Zeit für Österreichs Gesundheitswesen

Portrait Alexander Biach
© KRISZTIAN JUHASZ

Die aktuellen Finanzausgleichsverhandlungen sind von zentraler Bedeutung für die Zukunft. Es gibt sowohl Interessenskonflikte als auch Gemeinsames zwischen Bund, Bundesländern und Sozialversicherung. Der Ausgang der Gespräche ist offen, sagte Dr. Alexander Biach, Vizedirektor der Wiener Wirtschaftskammer, bei der Präsentation des PRAEVENIRE Jahrbuchs 2022/2023 in Wien.

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Wolfgang Wagner

Gesundheitsjournalist

Unter dem Titel „Finanzausgleichsverhandlungen – die zentralen Punkte für das Gesundheitssystem“ – umriss Dr. Alexander Biach, ehemals Chef des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger, die komplexen Gespräche, die – nach einer COVID-19-bedingten Verlängerung des geltenden Finanzausgleichs – am besten im Sommer dieses Jahres, spätestens Ende des Jahres abgeschlossen sein sollten.

„Alles, was jetzt verhandelt wird, ist die Basis für den notwendigen Systemwechsel“, so Biach. Es handle sich um einen Drei-Stufen-Prozess. Dazu werden Finanzausgleichsverhandlungen im Rahmen von 15a-Vereinbarungen geführt über die Finanzierung der Spitäler und die grundsätzliche Zusammenarbeit mit Sozialversicherungsträgern und Bundesländern. „Formell sind eigentlich nur Bund und Bundesländer beteiligt“, erklärte der Experte. Es sei aber sinnvoll, die Sozialversicherung einzubinden.

Darauf folgt in der zweiten Stufe das Bundesgesetz zur partnerschaftlichen Zielsteuerung Gesundheit mit Änderungen in der Sozialversicherungsgesetzgebung, im Krankenanstalten- und Ärztegesetz etc. „Dort wird die Zusammenarbeit mit der Sozialversicherung festgelegt, es gibt aber auch in den anderen Gesetzen Novellierungen, meinte Biach. Und schließlich, so der Experte: „Auf der Basis der Gesetze und Verordnungen kommen die Zielsteuerungsverträge.“ Einer für den Bund, neun für die Bundesländer. „Darum geht es eigentlich. Von der Kindergesundheit über die Medikamentenversorgung bis zu den Primärversorgungseinheiten.“

Was teilweise übersehen wird: In den gesetzlichen Bestimmungen für die Zusammenarbeit der Player im Gesundheitswesen ist ein wesentlicher Punkt enthalten – der sogenannte „Kostendämpfungspfad“. „Die Ausgaben sollen jährlich nicht um mehr als 3,2 Prozent steigen“, erklärte Biach. Dies sei unter dem derzeitigen PRAEVENIRE Präsidenten Hans Jörg Schelling, ehemals Chef des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger und späterer Finanzminister, 2012 festgelegt worden.

Herausforderung: Kostendynamik

„Die große Frage ist, wie wir die Kostendynamik in den Griff bekommen“, erläuterte der Fachmann mit Hinblick auf die erste große Herausforderung im Rahmen der Finanzausgleichsverhandlungen zum Gesundheitswesen. Fakt ist, wie die Zahlen eindeutig belegen: Von 2012 bis 2019 lag man in Österreich bei den Ausgaben der öffentlichen Hand regelmäßig unter einem Zuwachs von 3,2 Prozent pro Jahr. Wahrscheinlich hat aber hauptsächlich COVID-19 die Kosten seit 2020 stark in die Höhe getrieben. „Wir liegen hier schon bei mehr als 35 Milliarden Euro (2021; Anm.), die das öffentliche Gesundheitssystem in Anspruch nimmt. Das ist schon eine sehr starke Dynamik. Die muss man in den Griff bekommen. Sonst werden die weiteren sinnvollen Maßnahmen nur schwer umzusetzen sein“, warnte Biach.

Es würde eventuell Sinn machen, Spitalsambulanzen und den niedergelassenen Bereich durch die Sozialversicherung zu finanzieren.

Sieht man sich die Zahlen im Detail an, ergibt sich folgendes Bild:

  • 2012 lag die gewünschte Ausgabenobergrenze für das öffentliche Gesundheitswesen in Österreich bei 21,873 Mrd. Euro. Real wurden 21,663 Mrd. Euro aufgewendet.
  • 2015 sollten es maximal 24,675 Mrd. Euro sein, tatsächlich betrugen die Ausgaben 23,861 Mrd. Euro.
  • Auch 2017 (26,483 Mrd. Euro laut Kosten- dämpfungspfad versus in Realität 25,855 Mrd. Euro) wurde das Ziel übertroffen.
  • 2018: 27,410 Mrd. Euro als Obergrenze, 26,990 Mrd. Euro tatsächlich ausgegeben (2019: 28,342 Mrd. Euro versus echter Aus- gaben von 28,168 Mrd. Euro).
  • 2020 überschritten die tatsächlichen Aus- gaben mit 30,042 Mrd. Euro statt der Obergrenze von 29,277 erstmals den Kostendämpfungspfad.
  • 2021 klaffte bereits die Lücke zwischen Planung (30,214 Mrd. Euro) und den wirklich in Anspruch genommenen Finanzen (35,207 Mrd. Euro; Schnellschätzung der Statistik Austria; Anm.).

Starke Unterschiede gibt es allerdings bei den Kostensteigerungen der einzelnen Sektoren des öffentlichen Gesundheitswesens, so Biach. Die Ausgaben für die Fondsspitäler, die vor allem von den Bundesländern getragen werden, betrugen im Jahr 2012 noch 11,65 Mrd. Euro. Im Jahr 2021 waren es bereits 16,4 Mrd. Euro. „Das ist in den vergangenen zehn Jahren schon eine große Steigerung um 41 Prozent“, sagte Biach. Die Krankenversicherungen zahlen davon im Rahmen ihres Pauschalbetrages rund ein Drittel. Auch hier gab es eine Steigerung: Für die Anstaltspflege stellten die Krankenkassen im Jahr 2012 rund 4,5 Mrd. Euro zur Verfügung. 2021 waren es bereits knapp 5,9 Mrd. Euro. Der Unterschied in der Finanzaufbringung zwischen Bundesländern und den Krankenversicherungen und ein Kernpunkt vieler Diskussionen, so Biach: „Die Sozialversicherung steigert ihren Beitrag zu den Spitälern immer im Ausmaß ihres Beitragswachstums.“ Letzteres ist natürlich konjunkturabhängig, was Biach – halb ironisch – mit dem Quotum „Geht’s der Wirtschaft gut, geht’s den Spitälern gut“ in Abwandlung eines Slogans der Wirtschaftskammer quittierte. „Das ist lange Zeit gut gegangen, bis die Kosten im Spitalsbereich eine gewisse Eigendynamik bekommen haben“, meinte der Experte. Genau das erfolgte aber besonders im Bereich der ambulanten Versorgung in den Krankenanstalten. „Die stationären Kosten stiegen nicht so wie die ambulanten Kosten“, stellte Biach fest. „Die Aufwendungen für die Versorgung im ambulanten Spitalsbereich stiegen von rund 1,7 Mrd. Euro im Jahr 2012 auf 3,54 Mrd. Euro im Jahr 2021. Das waren also um 105 Prozent mehr.“

Auf der anderen Seite kostete der stationäre Bereich der Fondsspitäler in Österreich im Jahr 2012 rund 8,985 Mrd. Euro. Im Jahr 2021 waren es 11,700 Mrd. Euro. Die Steigerung betrug absolut also rund 2,7 Mrd. Euro oder 30 Prozent. Hingegen lag die Erhöhung der Ambulanzkosten mit einem Sprung von 1,73 Mrd. Euro auf 3,54 Mrd. Euro im gleichen Zeitraum in Prozent wesentlich höher. Hingegen blieb die Zahl der in den Spitalsambulanzen versorgten Patientinnen und Patienten (Frequenzen) relativ gleich: Sowohl 2012 als auch im Jahr 2021 waren es jeweils um die 17 Millionen solcher Fälle. „Im stationären Bereich ist die Aufenthaltsdauer sogar noch zurückgegangen“, sagte Biach. Im Spitalsbereich stiegen die Kosten signifikant, aber nicht die Frequenzen.

Ganz anders zeige sich die Entwicklung im niedergelassenen Bereich mit den Ausgaben der Krankenversicherungen für die Hausärzte, Fachärzte, Ambulanzen etc. Dort machten die Aufwendungen der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 2012 rund 3,684 Mrd. Euro aus. Im Jahr 2021 waren es 5,464 Mrd. Euro. „Zwischen 2012 und 2021 hatten wir damit eine Steigerung von 48 Prozent.“

„Das ist die Kritik am System“, kommentierte Biach die Unterschiede in der Kostenentwickung speziell zwischen Spitalsambulanzen und dem niedergelassenen Bereich. Im Letzteren sollten ja viele Erkrankungen diagnostiziert und behandelt werden, für die derzeit häufig die Spi- talsambulanzen aufgesucht werden. Die Frage sei, ob dahinter nicht auch System liege. Die Antwort sei, wer das bezahle. „Die Kosten für den niedergelassenen Bereich zahlt die Sozial- versicherung. Die Kosten für die Spitäler zahlen zu einem großen Teil die Bundesländer. Das ist der Kernpunkt der Diskussionen“, erklärte der Fachmann.

„Die Länder haben gesagt, dass sie mit ihren Geldern nicht mehr auskämen. Sie bräuchten mehr Geld für die Spitäler. Deshalb sollte der Pauschalbeitrag (Krankenkassen; Anm.) flexibilisiert werden und steigen. Er sollte in der gegenwärtigen Form für den stationären Bereich erhalten bleiben, zusätzlich zu den sechs Milliarden Euro soll es noch eine komplette Übernahme der ambulanten Spitalskosten geben“, schilderte Biach. Die Antwort der Sozialversicherung sei natürlich gewesen, dass es kein Rütteln am Pauschalbeitrag geben könne. „Das kann auch nicht die Lösung sein.“

Trotzdem sei aber bereits Bewegung in den Verhandlungen zu registrieren. Biach: „Es kam der Vorschlag auf, der ein wenig seltsam geklungen hat, einen dritten Topf aufzumachen, in dem die Sozialversicherung, die Bundesländer und der Bund einzahlen, um Gruppenpraxen, Primärversorgungseinheiten oder selbstständige Ambulatorien zu finanzieren.“

Finnland hat acht Prozent Pflegebedürftige im Alter über 65, Österreich 22 Prozent.

Vorgeschlagene Lösung: Zwei Töpfe für Finanzierung

Das setzte sich bisher nicht durch. „Wenn man das System wirklich umstellen will, müsste man in Wahrheit die Problembereiche auflösen: dass aus manchen Gründen vom niedergelassenen Bereich in den Spitalsbereich verschoben wird. Man müsste auch der Sozialversicherung die Möglichkeit geben, im Spitalsbereich ein bisschen mehr mitzureden“, sagte Biach.

Fazit, so der Experte: „Es würde Sinn machen, darüber nachzudenken, ob man nicht den ambulanten Spitalsbereich und den niedergelassenen Bereich mit Hausärztinnen und -ärzten und Fachärztinnen und -ärzten über die Sozialversicherung finanziert. Dann würden die Verschiebungen zwischen den Sektoren wegfallen.“

Die Sozialversicherung hätte damit auch mehr Mitspracherechte, Bund und Länder könnten ein Entlastungspaket für den stationären Bereich andenken. Das Problem, wie Biach erklärte: „Ich bin mir nicht sicher, ob es hier zu sehr großen Bewegungen kommt.“ Es gibt durchaus Annäherungspunkte der „Player“ bei den Finanzausgleichsverhandlungen. So soll ein gemeinsamer Finanzierungstopf – je ein Drittel durch Bund, Bundesländer und Sozialversicherung – im Ausmaß von 70 Mio. Euro geschaffen werden, um besonders teure Medikamente und Therapien zu bezahlen.

Wir lassen bei den digitalen Gesundheitsanwendungen unheimlich viel Geld liegen.

Umsetzung fraglich

Fraglich sei allerdings die jeweilige Umsetzung von im Rahmen der Finanzausgleichvershandlungen beschlossenen Maßnahmen. Biach: „Nur ein Beispiel. Wir haben uns das Ziel gesetzt, 75 Primärversorgungseinheiten zu realisieren. Wir haben jetzt 40. In der Umsetzung ist nicht sehr viel weitergegangen. Da sollte es Dynamik geben.“

Ähnlich sei das bei der Digitalisierungsoffensive, die längst auch im Gesundheitswesen rollen sollte. „Da lassen wir unendlich viel Geld liegen, weil wir zu sehr auf unsere Daten schauen und uns fürchten, bevor wir die Chancen sehen“, sagte Biach. Hier sei mit den digitalen Gesundheitsanwendungen beispielsweise Deutschland quasi „davon galoppiert.“ „Wir lassen hier jährlich eine Bruttowertschöpfung von 132 Millionen Euro allein für den Gesundheitsbereich liegen.“

In Deutschland könnten Ärzte gesundheitsrelevante APPs mit in klinischen Studien bewiesenen Effekten auf Kassenkosten verschreiben. Das könne auch Arztkosten sparen und für eine bessere Versorgung zwischen Kontrollterminen sorgen. „Wir sind hier in Österreich noch sehr auf ELGA konzentriert.“ Bundesländer und Sozialversicherung würden aber beide danach trachten, das eHealth-Budget zu erhöhen und 1450 deutlich auszubauen. Die Telefon-Hotline sollte ja nicht nur in Corona-Zeiten verwendet werden.

Mehr gesunde Lebensjahre

Schließlich geht es um mehr Gesundheitskompetenz, mehr Vorsorge, Früherkennung und damit mehr gesunde Lebensjahre. „Wir haben immer mehr über 65-Jährige. Das entspricht keinem Kostendämpfungspfad (2012: rund 1,5 Millionen, 2022: 1,75 Millionen; Anm.).“ Das Problem liege darin, dass Österreich bei der gesunden Lebenserwartung deutlich hinter vergleichbaren Staaten liege – was die Kosten im Gesundheitswesen automatisch weiter antreibe. In Österreich erlebe jeder Mensch derzeit im Durchschnitt 59 Jahre gesund, in Schweden seien es um die 72 Jahre, sagte Biach.

Ein weiteres Beispiel für die Probleme, so Biach: „Österreich hat ab einem Alter von 65 Jahren etwa 22 Prozent Pflegefälle. In anderen Ländern, die etwa gleich viel für Gesundheit ausgeben, zum Beispiel Finnland oder Schweden, liegt die Rate der pflegebedürftigen über 65-Jährigen bei acht Prozent.“ Prävention müsse also gefördert werden und könnte massiv Geld für andere Investitionen im Gesundheitswesen freimachen.

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