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Harm Reduction: Was tun, wenn es für Prävention zu spät ist?

Harm Reduction und Risikominderung
© Manuela Egger-Moser

Harm Reduction: Was tun, wenn es für Prävention zu spät ist?

Harm Reduction und Risikominderung
© Manuela Egger-Moser

Der Begriff Harm Reduction ist weniger bekannt, als er es sich verdienen würde. Schadensminimierung und Risikominderung können und sollen einen wesentlichen Beitrag in der Gesundheitsversorgung leisten. Und zwar dort, wo Prävention nicht mehr möglich ist oder wo aus individuellen Gründen Lebensstiländerung und Suchtabstinenz nicht erfolgreich sind. Um dies erreichen zu können, benötigt es eine verständliche Aufklärungsarbeit und Informationsvermittlung – unter Gesundheitsfachleuten wie Betroffenen. | von Christian Lenoble

Harm Reduction, zu Deutsch Schadensminimierung, hat eine lange und erfolgreiche Geschichte – an den Beispielen der Sicherheitsgurtpflicht zur Verringerung von schweren Verletzungen bei Autounfällen oder des Nadeltauschs zur Minimierung von Folgeerkrankungen bei Drogensüchtigen. Das Konzept so breit wie möglich zu fassen, hat sich die im Mai 2022 präsentierte Seitenstettener Petition zu Harm Reduction und Risikominderung zur Aufgabe gemacht.

Essenzen der Petition

Ab 2021 wurde über ein Jahr lang das Thema Harm Reduction mit zahlreichen Expertinnen und Experten insbesondere vor dem Hintergrund der Onkologie, Orthopädie, kardiovaskulärer Erkrankungen und der Zahngesundheit diskutiert.

Einig sind sich die Fachleute ebenso, dass Evidenzbasierung und Wissenschaftlichkeit die Grundlage aller Ansätze sein müssen. Ein aktiver Dialog mit der Wissenschaft, die kontinuierlich neue Erkenntnisse generiert und die eigenen Annahmen und Gewissheiten hinterfragt, ist daher notwendig und soll gefördert werden. 

Anzustreben ist laut Petition eine verstärkte Aufklärung und der Transfer des Wissens in die Praxis der Gesundheitsversorgung, hin zu medizinischem Fachpersonal. Ein weiteres Ziel: Innovative österreichische Projekte zu Harm Reduction und Risikominderung sollen gefördert sowie regelmäßig evaluiert werden, um in der Folge erfolgreiche Projekte vor den Vorhang zu holen und in die Regelversorgung übernehmen zu können.

Harm Reduction vs. Prävention

Als eine der zentralen Essenzen der Petition erweist sich die Betonung, dass Harm Reduction und Risikominderung als unterstützende Ansätze und Maßnahmen anzusehen sind. Prävention im Sinne von Lebensstiländerungen und Suchtabstinenz stellen unbestritten die bestmöglichen Outcomes für Betroffene dar und bleiben die primären Ziele.

Für PRAEVENIRE heißt es die Arbeit zum Thema Harm Reduction mit Stakeholdern und Fachleuten aus dem Gesundheitsbereich sowie den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern der Petition weiter fortzusetzen. Eine Gelegenheit dazu bot sich Ende August im Böglerhof in Alpbach beim PRAEVENIRE Gipfelgespräch unter dem Titel: „Gesundheitskompetenz: Prävention und Schadens-/Risikoreduktion“. Dort erläuterte in ihrem Impulsreferat Prof. Dr. Erika Zelko, Leiterin des Instituts für Allgemeinmedizin an der Medizinischen Fakultät der JKU, den zentralen Unterschied zwischen Prävention und Harm Reduction: „Bei Prävention geht es um anpassende, krankheitsbezogene Maßnahmen für die gesamte Bevölkerung, während Risikoreduktion an die individuelle Person gerichtet ist. Dieser Paradigmenwechsel ist notwendig, wiewohl ich denke, dass die meisten Ärztinnen und Ärzte sowie andere Vertreter der Gesundheitsberufe das Prinzip der Harm Reduction bereits verfolgen – selbst wenn dies noch nicht unter diesem Begriff läuft.“ Univ.- Prof. Dr. Alfred Springer, zweiter Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für arzneimittelgestützte Behandlung von Suchtkrankheit, stimmt dieser Aussage zu und verweist darauf, dass vor allem das ärztliche Handeln im chronischen Bereich Prinzipien der Harm Reduction beinhalte.

Erfolgsbeispiel: Rauchstopp vor und nach OP

„Vor ungefähr zehn Jahren haben die Skandinavier damit begonnen, die Patientinnen und Patienten in den Vordergrund zu stellen und sie bei einer bevorstehenden Operation zu inkludieren, um so deren Risiko zu minimieren.“ Laut Böhler gibt es drei Punkte, die man vor einer Operation kurzfristig ändern kann, um eine Risikominimierung zu erlangen: Reduktion der Keime, Vorbehandlung der Blutarmut und eben ein perioperativer Rauchstopp.

Zahlen zu Letzterem untermauern die Sinnhaftigkeit dieser Maßnahmen: Nichtraucherinnen, Nichtraucher haben etwa bei einer Schulteroperation ein fünfprozentiges Risiko einer Komplikation, bei Raucherinnen, Rauchern liegt dieses Risiko bei 25 Prozent.

„Ein Rauchstopp sowohl vor als auch nach der Operation hat demnach in vielen Bereichen eine signifikante Wirkung“, so Böhler.

Zeitmangel und Kompetenzendefizit

Um Aufklärungsarbeit zu ermöglichen, ist es also zuerst notwendig, festzumachen, wer freie Ressourcen hat, um im Bereich Harm Reduction etwas leisten zu können und wie diese Leistungen ins Finanzierungssystem einzugliedern sind“, betonte Daniel Peter Gressl, Diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger für gemeinde- und bevölkerungsorientierte Pflege der Stadtgemeinde Judenburg. Er sprach damit zugleich das Problem an, das Harm Reduction viel Zeit, Information und Beratung braucht, für die im niedergelassenen Bereich häufig zu wenig Raum ist.

Wir brauchen definitiv Schulung und Fortbildung für die Ärzteschaft und Vertreter anderer Gesundheitsberufe. Ideal wäre eine gemeinsame Fortbildung, die der Förderung der Zusammenarbeit dienlich wäre“, meinte Dr. Erwin Rebhandl, Präsident von AM Plus. Die Zahl jener, die mit dem Begriff Harm Reduction nur wenig anfangen können, sei laut Umfragen erschreckend groß.

Wissenstransfer zu den Betroffenen

Fest steht, dass gut geschultes Gesundheitspersonal wesentlich dazu beitragen kann, die individuelle Gesundheitskompetenz – ein Eckpfeiler eines guten Versorgungssystems – zu fördern.

Eine weitere Option wäre die Entwicklung einer Art Gesundheitsführerschein, um Menschen in ihren verschiedenen Lebensphasen über Gesundheitsprobleme zu informieren und upzudaten. Denkmöglich sind etwa sowohl im ärztlichen als auch im nicht-ärztlichen Bereich kuratierte Fragen-Antworten-Dokumente, die ständig am neuesten Stand des Wissens gehalten werden und Auskunft über die wichtigsten Praxisthemen geben – beispielsweise zu den zentralen Fragen rund um Rauch- und Alkoholkonsum.

Prof. Dr. Reinhard Riedl, Berner Fachhochschule, Vorstandsmitglied und Digital Health Experte, bemerkte: „Ich warne davor, dass man glaubt, mit einem einfachen Frage-Antwort-Spiel alles aus der Welt schaff en zu können. Randfelder bleiben dabei immer off en. Umfragen zeigen zudem, wie schnell sich Wissen ändert.“ Solche grundsätzlich hilfreichen Informationsbanken müssten also permanent aktualisiert werden. Laut Riedl wurde es generell in den letzten Jahren, insbesondere in der Pandemiezeit, verabsäumt, den Menschen ehrlich zu erklären, wie Wissensgenerierung und Wissenschaft funktioniert: „Das ist ein Erkenntnisprozess, der immer weitergeht. Es gibt keine ewig gültige Antwort.“

Maßgeschneiderte Maßnahmen

Einigen konnte man sich in der Fachrunde auf eine Reihe von Forderungen, um im gesamten Themengebiet Fortschritte zu machen. Mag. Barbara Fisa, MPh, Geschäftsführerin von „The Healthy Choice“, rät, Spezialistinnen und Spezialisten, wie Ernährungswissenschafterinnen und -wissenschafter, Sportwissenschafterinnen und -wissenschafter, Psychologinnen und Psychologen heranzuziehen, um den Bereich von den rein ärztlichen Berufen wegzubekommen.

Mag. Sabine Röhrenbacher, Leitung der Kommunikation und des Büros bei dem Bundesverband Selbsthilfe Österreich, tritt für eine stärkere Verankerung der Patientenvertretung im Sozialen- und Gesundheitswesen ein.

Dr. Alexander Biach, Direktor-Stv. der Wirtschaftskammer Wien und Standortanwalt der Stadt Wien, betonte: „Jede Person hat eine eigene Geschichte. Das ist auch die Erkenntnis, die uns auf den Weg der Präzisionsmedizin gebracht hat. Die richtige Behandlung mit der richtigen Dosis zum richtigen Zeitpunkt für die richtige Patientin und den richtigen Patienten – das Grundprinzip muss auch für Prävention und Harm Reduction gelten.“

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