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Gesundheit braucht interdisziplinäre Zusammenarbeit

warum ein Plus an Kooperation und gegenseitiges Verständnis das Gesundheitswesen voranbringen würde
© Ludwig Schedl

Gesundheit braucht interdisziplinäre Zusammenarbeit

warum ein Plus an Kooperation und gegenseitiges Verständnis das Gesundheitswesen voranbringen würde
© Ludwig Schedl

Dr. Andreas Krauter, MBA ist ärztlicher Leiter der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK) und Leiter des Fachbereichs Medizinischer Dienst. Im Gespräch mit PERISKOP erklärt er, warum ein Plus an Kooperation und gegenseitiges Verständnis das Gesundheitswesen voranbringen würde. | von Mag. Renate Haiden, MSc

Die modere Patientenbetreuung sieht ein gutes Zusammenspiel verschiedener Berufsgruppen vor. In der Realität besteht allerdings noch häufig ein berufsspezifisches Silodenken.

PERISKOP: Sie plädieren für mehr Selbstreflexion bei Verantwortlichen im Gesundheitswesen. Was meinen Sie damit?

KRAUTER: Jeder, der lange in einem Bereich arbeitet, hat blinde Flecken. Die kann man nur aufdecken, wenn man die Fähigkeit zur Selbstreflexion entwickelt und sich von guten Freunden beraten lässt. Das empfehle ich jeder Entscheidungsträgerin und jedem Entscheidungsträger im Gesundheitswesen. Die ÖGK ist mit 7,4 Mio. Versicherten ist ein großer Player. Es ist damit auch unsere Aufgabe, mitzuhelfen, dass wir mit anderen Stakeholderinnen und Stakeholdern gemeinsam strategische Ziele entwickeln und uns nicht in Einzelinteressen verzetteln. Es ist wichtig, die unterschiedlichen Interessen transparent zu diskutieren, aber am Ende mit einem Ergebnis alle ins Boot zu holen und dann erst in die Öffentlichkeit zu gehen. Dort muss dann die Sprache der Zielgruppe gesprochen werden, aber zuerst braucht es einen Konsens derjenigen, die Prozesse aktiv vorantreiben können. Wir haben gerade im Gesundheitswesen viele Themen, die über eine Regierungsperiode und erst recht über Bundesländergrenzen hinausgehen – da braucht es ein Commitment, dass man auf Basis von Transparenz und Vertrauen gut zusammenarbeiten will. Eine Gesellschaft kann sich nur entwickeln, wenn wir Verständnis dafür aufbringen, dass das Gemeinwohl über den Einzelinteressen liegen muss. Neid und Missgunst haben keinen Platz, wenn es um Fragen der Gesundheit geht. Wir brauchen die Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung.

Können Sie das an einem Beispiel festmachen?

Wollen wir zum Beispiel Folgekosten von Erkrankungen verhindern, braucht es weitreichende Maßnahmen in der Prävention. Da hilft es nicht, wenn wir bei einer Patientin oder einem Patienten aktiv werden, da muss auf der Systemebene gehandelt werden z.B. die sich abzeichnende Adipositas Epidemie. Schon jetzt haben wir eine stetig wachsende Anzahl an Mitmenschen, die manchmal auch dramatisch übergewichtig sind. Das hat Folgen bei den Erkrankungen des Herzkreislaufsystems, der Gelenke und Wirbelsäule und wirkt sich auch dramatisch auf die Arbeitsfähigkeit aus. Derzeit sprechen wir meist nur über die Maßnahmen, können wir zukünftig teure Medikamente einsetzen oder Operationen durchführen. In Wirklichkeit müsste schon in Kindergärten und Schulen das Thema richtige Ernährung viel prominenter unterrichtet werden, ganz zu schweigen von der Bewegung, Menschen sind Bewegungswesen, 6 x 45 Minuten sitzen mit ein paar Minuten Pausen dazwischen entsprechen nicht den Bedürfnissen. Menschen sind etwa 20 Minuten konzentriert und aufnahmefähig und brauchen dann wieder Bewegung und Entspannung dazwischen, hier ist dringlich ein Umdenken erforderlich! Ein anderes Beispiel sind Medizinerinnen und Mediziner, die sich in Gremien engagieren. Ein Präsident einer Fachgesellschaft hat oft wenig Unterstützung in seiner Krankenhausorganisation. Diese müsste doch stolz sein, wenn eine leitende Mitarbeiterin oder ein leitender Mitarbeiter diese Funktion hat und zu den führenden Expertinnen und Experten im Gesundheitssystem zählt. Oft fehlen hier das Verständnis und Unterstützung. Hier gilt es, großzügig zu denken, weil nur durch die Zusammenarbeit entwickeln wir uns weiter.

Kann der Ausbau der Primärversorgungseinheiten (PVE) eine Lösung sein, aktuellen Herausforderungen, wie der demografischen Entwicklung oder der Überlastung der Spitäler, zu begegnen?

PVE sind ein wichtiger Beitrag in der Versorgung der Bevölkerung, es geht mir aber nicht nur um die Krankenbehandlung und den Best Point of Service, sondern um Gesundheit, gesunde Lebensjahre und Prävention. Ein einziges PVE-Modell wird das nicht abbilden. Europaweit gibt es 400 verschiedene Lösungsmöglichkeiten, berufsgruppenübergreifender Versorgung von Menschen. Viel wichtiger ist doch die Frage, welche Versorgung an einem bestimmten Punkt gebraucht wird und welche Nachfrage es gibt, denn die PVE muss wirtschaftlich überlebensfähig sein. Den Patientinnen und Patienten ist nicht wichtig, welche Marke oben steht, sondern welche Leistungen sie erhalten, um gesund zu werden. Wir merken auch, dass Verträge für Einzelordinationen bei jungen Kolleginnen und Kollegen heute nicht mehr so gefragt sind. Sie wollen in Teams arbeiten, sich nicht gleich nach der Ausbildung selbstständig machen oder sich nicht Vollzeit verpflichten. Darauf haben wir reagiert und flexible Vertragsmodelle geschaffen: Jobsharing, Teilzeit oder Anstellung bei Vertragsärztinnen und Vertragsärzten sind etwa unsere Antworten, um auf die Bedürfnisse der neuen Generation an Medizinerinnen und Medizinern einzugehen.

Wie könnte so ein Rahmen aussehen?

Gemeinden sollen einfach Strukturen schaffen, etwa Räumlichkeiten für Untersuchungen, Videosprechstunden, Rezeption und eine Basisausstattung an Medizintechnik dazu. Je nach Bevölkerungsgröße und Nachfrage können sich dort dann die passenden Anbieterinnen und Anbieter aus Gesundheitsberufen einmieten. Dazu könnte man ebenfalls nach Bedarf das Angebot um Community Nurses und andere Berufsgruppen erweitern, um die Veränderungen des Bedarfs gut abzudecken. So brauchen oft chronisch Kranke nur an bestimmten Touchpoints den Arzt oder die Ärztin, dazwischen braucht es viel eher Diätologinnen und Diätologen, Fitnesstrainerinnen und -trainer oder Physiotherapeutinnen und -therapeuten. Für solche Entwicklungen hoffe ich auf den Goodwill der Ärztekammer und Interessenvertretungen und den Mut zu Pilotprojekten.

Warum gelingt das derzeit nicht?

Vieles ist historisch schon so verankert, dass wir uns oft nicht trauen, Neues einfach auszuprobieren. Es mangelt oft auch am gegenseitigen Respekt für die einzelnen Berufsgruppen. Wir benötigen alle zusammen, die an einem Strang ziehen und allen muss Hochachtung entgegengebracht werden, dass sie sich mit unserem Leid beschäftigen. Auch hier bin ich wieder bei der Frage der Solidarität im System und dem Gemeinwohl, denn oft geht es gar nicht so sehr um Erkrankungen, sondern um die Frage, wie man Themen bearbeitet, die noch keinen Krankheitswert haben. Wie können beispielsweise angesichts des dramatischen Mangels an Kinder- und Jugendfachärztinnen und -ärzten Familien gefördert werden, wieder selbst mehr in die Verantwortung zu gehen? Wie können Eltern wieder lernen festzustellen, wann ein Arztbesuch oder die Fahrt ins Spital dringend erforderlich ist und wann es einfach nur Geduld und passende Hausmittel braucht. Auch hier brauchen wir neue Strukturen, die dieses „alte Wissen“ wieder in die Bevölkerung bringen? Frühe Hilfen sind zum Beispiel so ein Ansatz.

Die Medizin wird aber immer komplexer und die Halbwertszeit des Wissens kürzer. Wie kann man unter diesen Umständen eine gute Basisinformation gewährleisten?

Es gibt viele Möglichkeiten der Fort- und Weiterbildung in der medizinischen Welt und der Gutteil unserer Vertragspartnerinnen und Vertragspartner nützt jede Gelegenheit mehr Wissen über die neuesten medizinischen Entwicklungen zu erreichen. Trotzdem gibt es viele Entwicklungen, die eine hohe Komplexität für die Therapie erfordern und das bedeutet, dass Therapieentscheidungen, besonders dort wo auch hohe ökonomische Herausforderungen entstehen, durch Spezialistinnen und Spezialisten und Expertisezentren getroffen werden.

Kommen ausreichend innovative Therapien zu den Patientinnen und Patienten?

Ich denke schon, dennoch braucht es ein klares Bild, wer was verordnen kann und eine Kosten-Nutzen-Abwägung. Nicht alles, was machbar ist, macht auch Sinn. Klar ist: Medizinerinnen und Mediziner wollen immer das Beste für die Patientinnen und Patienten. Wir können auch heute schon manche Therapien, die sehr selten gebraucht werden, aber in bestimmten Fällen Leben verlängern, auf dem internationalen Markt einkaufen, aber das sollte nicht die Regel sein. In der ÖGK wollen wir sicherstellen, dass eine moderne Versorgung mit sicherer Medizin stattfinden kann. Leider können das Studien nicht immer sicherstellen, wir benötigen aber handfeste Evidenz für die Wirksamkeit. Was heute als Innovation gepriesen wird, kann sich morgen schon als unwirksam herausstellen. Daher müssen wir parallel zur Forcierung der Präzisionsmedizin auch die molekulargenetische Diagnostik auf ein Level heben, um die Wirkung von Therapien zu belegen. Beim Einsatz von teuren Medikamenten müssen wir ganz besonders darauf achten, dass sie tatsächlich dort, wo sie therapeutischen Nutzen entwickeln, eingesetzt werden können. Ein Gießkannenprinzip können wir nicht vertreten.

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