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Gamechanger in der Diabetesbehandlung

© ARMAN RASTEGAR

Gamechanger in der Diabetesbehandlung

© ARMAN RASTEGAR

Der progressive Verlauf und die damit einhergehenden Komplikationen sowie die laufend steigende Prävalenz von Diabetes mellitus Typ-2 belasten das Gesundheitssystem schwer. Der Vision, eine „Remission“ der Erkrankung bei Betroffenen zu erreichen, ist man nun mit einer neuen, auf Inkretinen basierten Therapie nähergekommen, schildert Prim. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Ludvik, Vorstand der Abteilung Diabetologie, Endokrinologie und Nephrologie, Klinik Landstraße.

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Rainald Edel, MBA

Periskop-Redakteur

Der Typ-2 Diabetes ist eine multifaktoriell ausgelöste Erkrankung, bei der Übergewicht, Ernährung, (epi)genetische Faktoren sowie Umwelteinflüsse und Lebensstil das Auftreten
begünstigen. Mit bisherigen Behandlungsansätzen war das Erreichen einer Normoglykämie nur schwer bzw. nur mit metabolisch chirurgischen Eingriffen möglich. Nun liegt es an den „Zahlern“ im Gesundheitssystem, dass nachhaltige Therapiekonzepte schon in frühen Behandlungsphasen eingesetzt werden und nicht erst bei Überschreiten höchst gefährlicher Grenzwerte. 

PERISKOP: Wie häufig kommt Diabetes mittlerweile in der Bevölkerung vor?
Ludvik: Wir haben in Österreich derzeit zwischen 600.000 bis 800.000 Menschen mit Typ-2
Diabetes. Das ist eine gewaltige Zunahme innerhalb der letzten 20 Jahre. Hinzu kommen noch rund 350.000 Menschen mit Prädiabetes und eine hohe Dunkelziffer. In der Altersgruppe über 60 Jahre liegt die Diabetes-Prävalenz vermutlich sogar bei über 20 Prozent. Da man davon ausgehen kann, dass diese Bevölkerungsgruppe noch 20 bis 30 Jahre lebt, würde sie unbehandelt auch noch die fatalen Spätschäden des Diabetes erleben. Diese sind nicht nur für die Betroffenen und deren Umfeld traurig und schmerzhaft, sondern auch für das Gesundheitssystem finanziell sehr belastend. Zugleich lässt sich eine drastische Zunahme von Übergewichts bzw. Adipositas in der Bevölkerung feststellen. Auf Grund der Korrelation zwischen Diabetes und Übergewicht wird sich dies ebenfalls noch auf die Diabeteszahlen auswirken. 

Wir haben in der Pathogenese des Diabetes auf der einen Seite das Übergewicht und auf der anderen Seite neben der Genetik auch die Epigenetik.

Entgegen der früheren Lehrmeinung sind
die Ursachen für das Auftreten von Diabetes Typ-2 vielfältig und lassen sich nicht
nur auf mangelnde Bewegung und ungesundes Essverhalten reduzieren. Welche
Faktoren spielen eine Rolle?
Der Diabetes Typ-2 ist eine Erkrankung mit einem sehr starken genetischen Hintergrund. Hat ein Elternteil Diabetes, hat das Kind eine 40-prozentige Wahrscheinlichkeit, selbst Diabetes zu entwickeln; haben beide Elternteile diese Erkrankung, so steigt der Faktor auf 80 Prozent. Typ-2 Diabetes wurde früher oft als Altersdiabetes bezeichnet, weil er im höheren Alter aufgetreten ist, das stimmt heute nicht mehr. Aber er tritt meist auf Basis einer vorhandenen Adipositas oder eines Übergewichtes auf. Auch diese sind genetisch vererbt, wiewohl auch Umweltfaktoren hier eine wichtige Rolle spielen.

Wir haben in der Pathogenese des Diabetes Typ-2 auf der einen Seite das Übergewicht und auf der anderen Seite neben der Genetik auch die Epigenetik. Wie lebt bzw. ernährt sich der Vater vor der Zeugung, wie die Mutter während der Schwangerschaft? Schon in dieser Phase werden Genexpressionen in Richtung einer möglichen Diabetesgefährdung des Kindes geändert. Dazu kommen die frühkindliche Entwicklung und die kindliche Ernährung. Erhält ein Kind z.B.
Kohlenhydrate oder Zucker zum Trost? Auch das familiäre und sozioökonomische Umfeld, der kulturelle Hintergrund, der Wohnort und die Möglichkeit zu ausreichender Bewegung sind bestimmende Faktoren für Diabetes. Nicht zu unterschätzen ist der Faktor Bildung. Aufgrund des hohen Anteils an Personen mit Migrationshintergrund liegt häufig eine Kombination von genetischem Hintergrund, Lebensstilmaßnahmen und sozioökonomischen Faktoren vor. Die ganze Pathogenese der Adipositas und damit des Diabetes Typ-2 ist so vielschichtig, dass man, wenn nur an einem Rädchen gedreht wird, meistens scheitert. Entweder müssen wir zentral angreifen oder sehr viele Faktoren in Angriff nehmen.

Abnehmen, Bewegung und Ernährung sind wichtige Stellschrauben – was müsste man
hier machen, um erfolgreicher als bisher zu sein?
Wir leben mit Genen aus Zeiten, in denen der Körper Energie bewahren wollte, weil es häufig
Energiemangel gab. Das heißt, unser Organismus ist darauf ausgelegt, Körpergewicht zu halten. Das bedeutet, wenn wir Gewicht verlieren, versucht der Körper es sich wieder zurückzuholen. Das ist der Grund, warum konservative Maßnahmen, eine Gewichtsreduktion zu halten, meist scheitern.

Dass wir alle dicker werden, ist ein Faktum. Ebenso werden wir älter und erleben auch
dadurch eher die Entwicklung eines Diabetes. Soziodemographische Prognosen zeigen, dass es höchst an der Zeit ist, nachhaltige Veränderungen herbeizuführen, denn sonst erleben wir
in wenigen Generationen eine große Katastrophe. Daher kann man nicht mit Strategien weitermachen wie bisher, die eigentlich nichts gebracht haben. Statt zu predigen, man solle weniger essen und sich mehr bewegen, können wir beispielsweise in den Städten die Architektur so gestalten, dass sie uns animiert, uns mehr zu bewegen. Aber das ist eine politische Entscheidung und schlägt sich erst langfristig in ein bis zwei Generationen nieder. 

Oder ich packe das Problem anders an und behandle Adipositas und Diabetes wie Krankheiten, die auch medikamentös behandelbar sind.

In der medikamentösen Behandlung hat zuletzt eine neue Therapie für Aufsehen
gesorgt. Wie wirkt diese und welche Verbesserungen lassen sich dadurch erreichen?
Wir hatten bislang nicht die Möglichkeit, bei sehr vielen Menschen mit Diabetes eine Normoglykämie, das heißt einen HbA1c-Wert von unter 5,6 Prozent zu erreichen. Der Grund war, dass der Einsatz von Substanzen wie den Sulfonylharnstoffe oder Insulin zwar den Blutzucker effektiv senkt, jedoch mit der Gefahr potenzieller Hypoglykämien. Lediglich durch eine bariatrische Operation kann zumindest für eine gewisse Zeit eine Diabetesremission erreicht werden, allerdings um den Preis eines operativen Eingriffs, von Mangelzuständen und postprandialen Hypoglykämien. Im Vorjahr hat die EU-Kommission den ersten GIP-/ GLP-1-Rezeptor-Agonisten Tirzepatid zugelassen. Diese neue Substanz vereint die Wirkung von zwei menschlichen Darmhormonen (Inkretinen): Glucagon-like peptide-1 (GLP-1) und Glucose-dependent insulinotropic polypeptide (GIP). GLP-1-Rezeptoragonisten sind schon länger in Anwendung und haben mit deutlichen Gewichtsverlusten bei übergewichtigen oder adipösen Personen auf sich aufmerksam gemacht. Der Darm schüttet GLP-1 unmittelbar nach einer Mahlzeit aus. Dieses Peptidhormon bindet an seinen vorgesehenen Rezeptor und veranlasst so die Betazellen der Bauchspeicheldrüse, Insulin freizusetzen. Daraufhin sinkt der Blutzuckerspiegel, aber im Gegensatz zu bisherigen Therapieoptionen entsteht kein Unterzucker. GIP ist ein Hormon, das die Wirkungen von GLP-1 ergänzt und die Insulin-Empfindlichkeit verbessert. Hochinteressant ist, dass es durch die Kombination der beiden Inkretine zu einer additiven Wirkung kommt, wobei der duale Wirkstoff sich um das Vier- bis Fünffache affiner zum GIP-Rezeptor verhält als zum GLP-1-Rezeptor. Damit setzt der neue Wirkstoff an allen drei pathogenetischen Veränderungen des Diabetes an, nämlich der Betazellensekretion, der Insulinresistenz und der Leberglukoseproduktion. Die Folge ist eine Reduktion des HbA1c von bis zu 2,4 Prozent und des Körpergewichts von bis zu zwölf Prozent, bei adipösen, nichtdiabetischen Menschen sogar bis zu 22 Prozent vom Ausgangsgewicht. Das duale Analogon Tirzepatid wird nach Einschulung von Patientinnen und Patienten selbst einmal wöchentlich subkutan gespritzt. 

Ein in Fachkreisen heftig diskutiertes Thema ist das Erreichen der Normoglykämie als Therapieziel. Ist eine „Remission“ medizinisch überhaupt erreichbar und welche Zielparameter werden angestrebt?
Diese neue Therapieoption stellt einen Paradigmenwechsel dar. Es gibt zwar die Meinung, dass, wenn man Patientinnen und Patienten mittels Medikamenten in einen Normbereich bringt, diese nicht lege artis als in Remission befindlich zu bezeichnen sind, da Remission
Behandlungsfreiheit bedeuten würde. Allerdings muss man relativieren, dass auch die Rheumatologie und Onkologie von Remission spricht, wenn unter Therapie Beschwerdeoder Tumorfreiheit vorliegt. Gleiches gilt für Bluthochdruck und bei Hypercholesterinämie, wo es ebenfalls nur mittels Medikamenten gelingt, einen Normbereich zu erreichen. 

Mit dem Einsatz von Tirzepatid können wir dies erstmals auch bei Diabetes erreichen. Eine Substanz, die wenig bis keine Nebenwirkungen zeigt und in Studien bewiesen hat, dass sie selbst nach langer Diabetesdauer und bei schlechter Blutzucker-Einstellung die Funktion der Beta-Zellen fast wieder herstellen kann.

Eine Gewichtsreduktion hat, wie neueste Studien zeigen, eine deutliche Auswirkung auf die Insulinsekretion. Um welche Größenordnung handelt es sich dabei im Schnitt?
Sowohl die European Association for the Study of Diabetes (EASD), als auch die Österreichische Diabetes Gesellschaft (ÖDG) sagen ganz klar, dass man in der Behandlung des Diabetes gewichtszentriert arbeiten müssen – weil das Übergewicht kausal dafür verantwortlich ist, dass Diabetes auf Basis genetischer Veranlagung ausbricht. Wir wissen auch von Studien
über massive Gewichtsreduktion mittels Formuladiäten, dass man eine Remission erzielen
kann. Das heißt, wenn ich an der Gewichtsschraube drehe, drehe ich automatisch auch an
der Diabetesschraube. Aus der bariatrischen Chirurgie wissen wir, wenn wir das Körpergewicht um 15 Prozent reduzieren, können wir eine Reihe von Komorbiditäten reduzieren. Wir bringen beispielsweise die Nichtalkoholische Fettleberhepatitis (NASH) in Remission, verbessern die Hypertonie und erreichen einen Bereich der Normoglykämie. 

Eine Reduktion ab 15 Prozent aufwärts war medikamentös bisher nicht möglich. Die dualen GIP/GLP-1-Rezeptor-Agonisten zeigen in Studien, dass man damit das Körpergewicht um zwölf Prozent bei Menschen mit Diabetes und um bis zu 22 Prozent bei Menschen ohne Diabetes reduzieren kann. Das kommt schon in Bereiche, die man bisher nur aus der metabolischen Chirurgie kannte.

Wir brauchen die bariatische Chirurgie immer noch – für sehr übergewichtige Personen, oder in Fällen, in denen die Therapie nicht anspricht oder nicht vertragen wird.

Ein großer Kostenfaktor in der Behandlung des Diabetes sind die Spätkomplikationen.
Wie sieht die Wirtschaftlichkeit der neuen Therapieoption aus?
Besorgniserregend und eigentlich unmenschlich ist die derzeitige Erstattungsregelung, da
sie Menschen mit Diabetes de facto diskriminiert. Im Gegensatz zu anderen Erkrankungen, wo richtigerweise sehr früh die wirksamste Therapie auf Kassenkosten zur Anwendung kommt, sind die Erstattungshürden in diesem Fall sehr hoch. Denn für eine Erstattung muss eine Person sehr übergewichtig, vorbehandelt und sehr schlecht therapeutisch eingestellt sein. Somit werden Menschen oft über Jahre einem gefährlich hohem Zuckerwert ausgesetzt – mit allen Komplikationen, die sich daraus ergeben – bis dann spät aber doch diese effektive Therapie erstattet wird.

Wir wissen von Studien über massive Gewichtsreduktion mittels Formuladiäten, dass man eine Remission erzielen kann. Das heißt, wenn man an der Gewichtsschraube dreht, dreht man automatisch auch an der Diabetesschraube.

Es gibt bereits Studien dieser Therapieoption versus Insulin, die belegen, dass es – ganz
abgesehen vom Vorteil für die Betroffenen – auch einen klaren ökonomischen Benefit gibt. Es gibt noch nicht ausreichend Langzeitdaten, um zu wissen, ob die Therapie wirkt, solange sie verabreicht wird. Aber soweit wir die Daten sehen, können wir damit zumindest die Diabetesprogression weit hinauszögern. Diesen neuen Wirkstoff in einer frühen Therapielinie
einzusetzen, ist anfangs teurer, aber mittelfristig kostensparend. Das haben wir auch in einem Brief der Österreichischen Diabetes Gesellschaft an die Heilmittel Evaluations Kommission deutlich kommuniziert und warten auf eine Antwort.

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