Bei der Konzeption der elektronischen Gesundheitsakte war Österreich am Beginn führend. Doch die „Realverfassung“ Österreichs hat zu Stolperstricken geführt, die ihre Zukunft gefährden. mehr frühzeitige Zusammenarbeit, mehr Partnerschaft und mehr Ressourcen seien dringend erforderlich, sagten Expertinnen und Experten bei den 8. PRAEVENIRE Gesundheitstagen im Stift Seitenstetten.
Wolfgang Wagner
Gesundheitsjournalist
Dr. Stefan Sabutsch, Geschäftsführer der ELGA GmbH, führte in einem Impulsstatement folgende Aufgabenbereiche der Gesellschaft an:
- Strategische Koordinationsaufgaben
- IT-Architektur
- Definition von Dokumentenformat-Standards
- Implementierung
- Integrationstests
- Roll-Out
- Informationssicherheit
- Öffentlichkeitsarbeit
- Entwicklung von zukünftigen e-Health-Anwendungen
Mit den Dritteleigentümern Bund, Bundesländer und Sozialversicherung gibt es ein komplexes Eigentumsverhältnis, die Ressourcen sind mit einem Budget von 23,6 Mill. Euro begrenzt. Was in der Öffentlichkeit oft untergeht, so Sabutsch: „Nicht verantwortlich ist die ELGA GmbH für die e-card, das e-Rezept, eKOS, EMS und die Gesetze.“
Wiederum oft in der gesundheitspolitischen Debatte nicht berücksichtigt: Die Benutzeroberflächen für die einzelnen Funktionen werden nicht von ELGA, sondern von den Softwareanbietern der Ordinationen, Krankenhäuser, Apotheken bzw. weiteren Gesundheitsdiensteanbieter zur Verfügung gestellt
Weiterhin Lücken
Längst werden in Österreich noch nicht alle bereits vorhandenen Funktionen von ELGA ausreichend genützt. Das betrifft auch wesentliche Systempartner. „Die Entlassungsbriefe kommen derzeit hauptsächlich von den Fondsspitälern.“ Pflege-Entlassungsbriefe gebe es noch nicht in allen Bundesländern, hier liege man bei 20 Prozent der ärztlichen Entlassungsbriefe. „Die Laborbefunde bekommen wir derzeit nur von intramuralen Labors“, führte der ELGA-Geschäftsführer ein weiteres Manko an. Das gleiche gelte für die Radiologiebefunde. Ambulanzbefunde steuerten seit 2022 nur einige Krankenanstalten bei.
Die e-Medikation werde auf der einen Seite vorwiegend vom extramuralen Sektor benützt. Auf der anderen Seite, so Sabutsch: „Über den e-Impfpass sind schon rund 22 Millionen Impfungen enthalten.“ Bei den Bilddaten sei man derzeit noch in lokalen Pilotprojekten aktiv. Ohne Zweifel, ELGA erfreue sich bei der Bevölkerung großer Akzeptanz. „96,8 Prozent der Bürgerinnen und Bürger nehmen daran teil. Die Opt-Out-Rate beträgt 3,2 Prozent und nimmt ab.“
Der aktuelle Benutzungsstand von ELGA über das Gesundheitswesen hinweg, so der Geschäftsführer der Betreibergesellschaft:
- 69 Prozent der österreichischen Krankenanstalten sind angeschlossen, allerdings hier 100 Prozent der öffentlichen und nur 55 Prozent der privaten
- Die niedergelassenen Kassenärztinnen und Kassenärzte benutzen ELGA zu 84 Prozent (99 Prozent lesen und schreiben die e-Medikation, 40 Prozent lesen e-Befunde, 80 Prozent benutzen den e-Impfpass).
- Bei den Pflegeheimen sind nur acht Prozent vertreten, bei den Ambulatorien 15 Prozent, die öffentlichen Apotheken hingegen zu gar 97 Prozent.
Die Bürgerinnen und Bürger vertrauen auf ELGA und erwarten, dass die Gesundheitsdaten in ELGA verfügbar sind, wenn sie gebraucht werden.
Stefan Sabutsch
Eindeutige „Renner“ sind die e-Medikation und der e-Impfpass. Sabutsch: „Im System sind mehr als 150 Millionen Verordnungen aus 18 Monaten bei 7,5 Millionen e-Medikationsverordnungen pro Monat. Ebenfalls enthalten sind mehr als 20 Millionen Impfungen, davon 18 Millionen COVID-19-Impfungen. Es sind rund 65 Millionen e-Befunde verfügbar. ELGA kann gut genutzt werden. Die Bürgerinnen und Bürger vertrauen auf ELGA und erwarten, dass die Gesundheitsdaten in ELGA verfügbar sind, wenn sie gebraucht werden. Für einen ‚Gesamtüberblick‘ über die Patientinnen und Patienten fehlen noch viele Informationen“, fasste der Experte die Situation zusammen.
Von den Ärztinnen und Ärzten geschätzt
„ELGA aus Sicht der niedergelassenen Ärzteschaft“ – für Dr. Alexander Moussa, Leiter des Referats für e-Health in Ordinationen im Rahmen der Österreichischen Ärztekammer und Allgemeinmediziner in Hartberg in der Steiermark, ist das ein durchaus positiv zu bewertendes, jedoch komplexes Bild. „Wir schätzen ELGA, auch die Wahlärztinnen und Wahlärzte schätzen ELGA. Sie wollen daran teilnehmen“, erklärte Moussa.
Auf der anderen Seite gebe es mehrere Problemfelder, so der ÖÄK-e-Health-Referatsleiter:
- Es existiert keine einheitliche Benutzeroberfläche.
- Seit Jänner 2023 gibt es Kontaktbeschränkungen (kein Einblick in ELGA und e-Health-Anwendungen bei Visiten und Betreuung in Pflegeheimen).
- Noch längst nicht alle Befunde sind in ELGA
- Die Finanzierung der Anbindung des niedergelassenen Bereiches und Kostenfreiheit der Benutzung der Befundspeicher für die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sollten geklärt gegeben sein.
- Es fehlt eine bessere Einbindung der Wahlärztinnen und Wahlärzte.
Die Benutzungsfrequenzen je nach Funktion sprechen eine deutliche Sprache, so Moussa: „Die e-Medikation macht 87 Prozent der ELGA-Nutzung aus, dann kommen mit neun Prozent der e-Befund und mit vier Prozent der e-Impfpass.“ Worauf es der niedergelassenen Ärzteschaft bezüglich ELGA am meisten ankommt: verbesserte Benutzbarkeit, Schaffung eines schnell abrufbaren „Patient Summary“ mit allen notwendigen Informationen, Notfalldaten und für die gemeinsame Weiterentwicklung des Systems eine frühzeitige Kooperation auf Augenhöhe aller Systempartner.
Stolperdrähte
Deutlich skeptisch zum aktuellen Stand von e-Health, ELGA & Co. in Österreich äußerte sich Univ.-Doz. Dr. Thomas Mück, Präsident der Österreichischen Computergesellschaft (auch GD.-Stv. AUVA): „Wir hatten wunderbare Voraussetzungen. ELGA wurde erstmals in den 2000er-Jahren propagiert. Bei den theoretischen Grundlagen waren wir europaweit führend. Es wurde relativ rasch die legistische Basis erarbeitet. Doch ab diesem Zeitpunkt haben wir begonnen, uns in Stolperdrähten der österreichischen Realverfassung zu verheddern.“ ELGA müsse deutlich breitenwirksamer werden – zum Beispiel durch Einbindung der Zahnärztinnen, Zahnärzte und der Wahlärztinnen, Wahlärzte. Ähnliches gelte für die Labor- und Radiologiebefunde, die auch „schreibende“ Teilnahme der Krankenanstalten in der e-Medikation (nur rund 20 Prozent).
ELGA ist heute als bestehende Plattform ein funktionierendes System. Es wird aber noch nicht ausreichend genutzt.
David Maurer
„Wir haben in Summe eine sehr gute Verbreitung von ELGA mit 9,1 Millionen Personen im Zentralen Patientenindex. Angeschlossen sind 2.200 Krankenanstalten, Ambulatorien und medizinische Einrichtungen. 11.500 niedergelassene Ärztinnen und Ärzte benutzen die e-card-Infrastruktur, ebenso rund 1.400 Apotheken“, stellte Dr. Alexander Biach, Direktor-Stellvertreter der Wirtschaftskammer Wien und ehemals Chef des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger, fest.
Im OECD-Vergleich zurückgefallen sei Österreich allerdings bei den digitalen Gesundheitsleistungen. Biach: „Österreich liegt mit 80 Prozent Verbreitung bei der Ausgestaltung von digitalen Angeboten bei Ärztinnen und Ärzten. Damit sind wir eigentlich im hinteren Teil der Digitalisierung in diesem Bereich angelangt.“ Prof. Mona Dür von der Duervation GmbH betonte in diesem Zusammenhang, dass möglichst alle Berufsgruppen im Gesundheitswesen an ELGA angebunden werden müssen: „Ich bin Ergotherapeutin. Aber es geht immer primär um die Ärztin und den Arzt. Wenn wir wollen, dass das System niederschwellig und praktikabel bezüglich der Daten ist, dann geht es darum, dass alle Gesundheitsberufe Zugang haben.“ Bei der wenigen Zeit, welche die Angehörigen der Gesundheitsberufe für ihre Tätigkeiten an Patientinnen und Patienten jeweils hätten, seien schneller Zugang und optimale Aufarbeitung der enthaltenen Informationen entscheidend. „Im internationalen Vergleich werden wir für das, was wir (mit ELGA, e-card etc.; Anm.) haben, beneidet“, erklärte Andreas Huss, MBA, Obmann-Stellvertreter der Österreichischen Gesundheitskasse. „Wir sprechen sehr konstruktiv mit der Ärztekammer.“ Ergo- und Physiotherapeutinnen und -therapeuten etc. sollten natürlich ebenfalls dabei sein. Alle Befunde müssten letzten Endes bei der Hausärztin bzw. beim Hausarzt zusammenlaufen. Von den Wahlärztinnen und Wahlärzten seien leider bisher nur rund 460 von 11.000 vertreten. In Zukunft würden mit einer einheitlichen Diagnosekodierung und den Laborbefunden in ELGA weitere wichtige Schritte gesetzt werden. Die Radiologinnen und Radiologen würden weiters die Bilddaten kostenlos zur Verfügung stellen.
Die Abläufe in der medizinischen Versorgung von Patientinnen und Patienten seien einfach auf ihre ureigenen Interessen und Bedürfnisse abzustimmen. „Was können wir an diesen Abläufen ändern?“, fragte Mag. Maria Lesterl, Geschäftsführerin des Gesundheitszentrums der Selbstständigen (SVA) in Wien. Ein gutes EDV-System und darin Informationen auf dem letzten Stand seien – inklusive einer optimalen Patientenzentriertheit des Prozederes – entscheidend.
„ELGA ist heute als bestehende Plattform ein funktionierendes System. Es wird aber noch nicht ausreichend genutzt“, erklärte David Maurer von der Siemens Healthcare Diagnostics GmbH. Man benötige aber für den weiteren Ausbau eine „Allianz der Willigen“. Man sollte die ELGA-Plattform unter strengen Kriterien auch für private Anbieter und die Industrie öffnen. Die Technologie für bessere und umfassende Serviceangebote sei jedenfalls vorhanden.
„Es gibt einen ‚Elefanten‘ im Raum, um den man sich sehr kümmern muss“, meinte Prof. Dr. Reinhard Riedl, Forschungsprofessor an der Berner Fachhochschule. Man dürfe nicht ignorieren, dass auch auf dem Gebiet der Digitalisierung des Gesundheitswesens sehr oft sprichwörtliche Stellvertreterkriege ausgefochten werden. „Wenn es Interessenskonflikte gibt, werden die sicher an Pappkameraden ausgetragen“, sagte Riedl. Frühe und ehrliche Information, Interessensausgleich und das Ansprechen von Problemen seien entscheidend.
Man muss mehr investieren und alle Partner frühzeitig einbinden.
Manfred Müllner
„Wir können mit ELGA extrem viele Daten nutzen. Das ist für die Patientinnen und Pa- tienten von großem Vorteil“, betonte Andreas Röhrenbacher von der Hepatitis Hilfe Österreich. Die einzelne Patientin bzw. der einzelne Patient müsse aber auch bestimmen können, wer und wer nicht Zugang erhält. „Datensicherheit ist das höchste Gut.“ Auf der anderen Seite: Wenn man als Patientenvertreter erzählt bekomme, wie bei ein und derselben Person verschiedene Ärztinnen und Ärzte einander widersprechende medizinische Maßnahmen ergriffen, werde die Bedeutung solcher Systeme für die Qualität der Gesundheitsversorgung noch klarer.
Wahlärztinnen und Wahlärzte besser ausgestattet als Kassenordinationen?
Von der Gesundheitspolitik wird derzeit auch die notwendige Anbindung der Wahlärztinnen und Wahlärzte an ELGA diskutiert. Hier könnten sich in der Vergangenheit auch deutliche Fehlurteile eingeschlichen haben. Stefan Speiser, Gründer und Geschäftsführer von LATIDO Health Tech, einem Softwareanbieter für Wahlarztordinationen: „Ich bin der Meinung, dass die meisten Wahlärztinnen und Wahlärzte (mit EDV; Anm.) besser ausgestattet sind als viele Kassenärztinnen und Kassenärzte.“ Terminvergaben, Messenger-Dienste etc. – das spiele sich in diesem Bereich oft auf der Basis modernster Cloud-Technik ab, während bei ELGA noch immer die e-card als Zutrittshemmschuh wirke.
Der Zug in Richtung Digitalisierung läuft bei den Wahlärztinnen und Wahlärzten jedenfalls immer schneller. Speiser: „Das Unternehmen wurde vor sieben Jahren gegründet. Es hat mittlerweile 20 Mitarbeiter. In rund 1.500 Wahlarztpraxen haben wir bisher Systeme installiert. Vergangenes Jahr waren es rund 400, heuer wahrscheinlich weitere 500.“
E-Medikation und e-Impfpass – diese erfolgreich via ELGA laufenden Systeme seien nur so schnell erfolgreich etabliert worden, weil eben alle Beteiligten schon frühzeitig an einem Strang gezogen hätten. Oft fehle es aber gerade an der frühzeitigen Einbindung der auf diesem Gebiet tätigen Unternehmen, kritisierte schließlich Dr. Manfred Müllner vom FEEI – Fachverband der Elektro- und Elektronikindustrie. Nur in Partnerschaften auf Augenhöhe ließen sich Projekte, zum Beispiel der Eltern-Kind-Pass, auch schnell und optimal realisieren. Schließlich müsse auch mehr Geld aufgewendet werden. Müllner: „Hier muss man viel mehr investieren.“ Das ELGA-Jahresbudget (23,6 Mill. Euro) sei „im Vergleich zu den Gesundheitsausgaben die dritte Kommastelle hinter der Null“.
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