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EHDS – Europa darf nicht schlafen

© KRISZTIAN JUHASZ

EHDS – Europa darf nicht schlafen

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Die EU hat die Schaffung eines Europäischen Raums für Gesundheitsdaten (EHDS) ausgerufen. Die Realisierung des Projekts sollte von Anbeginn auch auf der österreichischen Agenda stehen. Untätigkeit bedeutet Verlust an Einfluss, an Chancen für ein für alle offenes Gesundheitswesen der Zukunft und an wirtschaftlichen Möglichkeiten, stellten Expertinnen und Experten bei einer Fachdiskussion bei den PRAEVENIRE Gesundheitstagen in Seitenstetten fest.

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Wolfgang Wagner

Gesundheitsjournalist

Die Digitalisierung stellt jedenfalls ein neues Konzept dar. Bart de Witte, führender europäischer Experte für die digitale Transformation im Gesundheitswesen und Gründer der HIPPO AI Foundation, zitierte den deutschen Soziologen Armin Nassehi (Tübingen): „Die Digitalisierung ist die Duplizierung der Welt.“ Ansätze hätte es aber schon längst gegeben, betonte der Experte. Auch die Wettervorhersagen, die als Modelle eingespielt werden, seien eigentlich nichts anderes. In den Life-Sciences würden immer umfangreichere Datenvolumina bei immer besserer Rechnerleistung längst dazu benützt, die Darstellung von feinsten Strukturen in der Biologie und die mit ihnen verbundenen Abläufe sichtbar und nutzbar zu machen. Gleiches finde sich in der bildgebenden Diagnostik mit den aus gewonnenen Daten errechneten Bildern, also der digitalen Rekonstruktion von Strukturen des Körpers. Doch es gebe ganz fundamentale Unterschiede zwischen der analogen Realität und dem „digitalen Zwilling“, der per Digitalisierung von  Informationen – in diesem Fall in Sachen Gesundheit – besteht: „Das Ich hat ein Recht auf körperliche und geistige Integrität, auf Autonomie mit Selbstverantwortung und Selbstbestimmung.“ Der ‚digitale Zwilling‘ sei hingegen online und stelle einen Geldwert dar.

Aus Gesundheitsdaten werden finanzielle Vermögenswerte gemacht. Rohstoffe werden billiger, wenn mehr davon vorhanden ist, Vermögenswerte nicht.

USA versus Europa

Dabei darf nicht vergessen werden, dass in allen diesen Fragen auch ein fundamentaler Unterschied zwischen Europa und den USA besteht. Die EU stelle auf die Grundrechte des Bürgers nach Artikel 35 des EU-Vertrages ab: „Jeder Mensch hat das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge und auf ärztliche Versorgung nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.“ Ein hohes „Gesundheitsschutzniveau“ müsse jedenfalls sichergestellt sein. Zum Schutz der EU-Bürgerinnen und -Bürger sei im Endeffekt auch die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) geschaffen worden. „Wir haben in Europa eine soziale Marktwirtschaft. Das System basiert auf Solidarität“, sagte de Witte. Ganz anders das Verständnis im Wirtschafts- und Sozialsystem der Vereinigten Staaten: Die medizinische Versorgung ist vornehmlich von den finanziellen Ressourcen des Einzelnen abhängig. Der Datenschutz soll über den Verbraucherschutz gewährleistet werden. Statt einer sozialen Marktwirtschaft herrsche in den USA nach wie vor der „Manchester Liberalismus“, stellte der Experte fest. Kleinteiligkeit in der Wirtschaft in der EU stünden zunehmend Marktmonopole von US-Unternehmen gegenüber. Solidarität werde in den Vereinigten Staaten durch Wettbewerb quasi ersetzt. Herauskomme eine „Assetiza-tion“, zitierte de Witte den spanischstämmigen Soziologen Fabian Muniesa (CSI/Paris). Man mache in einer Technologie-affinen Gesellschaft Dinge zu Vermögenswerten. Es sei „die Umwandlung von etwas in Eigentum, das einen zukünftigen Einkommensstrom erbringt.“ Immaterielle Vermögenswerte seien daher Wissen und somit Daten, die man sich aneignen, nutzen und daraus finanziellen Gewinn ziehen könne.

Sehr große Probleme haben wir mit einer Sekundärnutzung. Das darf nicht zu einem Geschäftsmodell werden.

„Gesundheitsdaten, ein KI-Modell und eine Berechnung machen ein trainiertes KI-Modell. Sie schützen das durch Geschäftsgeheimnisse und machen damit daraus finanzielle Vermögenswerte“, sagte Bart de Witte. Der ehemals je rund zehn Jahre bei SAP und IBM tätige Digitalisierungsexperte verdeutlichte das in einer Gegenüberstellung von Rohstoffen und Vermögenswerten. Der Wert von Rohstoffen wird aus Angebot und Nachfrage über den Handel abgeleitet. Vermögenswerte definieren sich aus dem Eigentum an zukünftigen Einkommensströmen. „Rohstoffe werden billiger, wenn mehr davon vorhanden ist, Vermögenswerte nicht.“

Ein Beispiel sei das US-Unternehmen Flatiron gewesen. Das habe eigentlich ohne klassisches Geschäftsmodell begonnen. Man bot Onkologinnen und Onkologen praktisch gratis die Analyse der Daten von Krebspatientinnen und -patienten (auch Tumor-Genomdaten) an. Nachdem man die Informationen von Millionen Patientinnen und Patienten erfasst hatte, wurde das Unternehmen von Roche im Jahr 2018 für rund zwei Milliarden US-Dollar gekauft.

Wir sollten proaktiv mitgestalten. Die Frage ist, ob wir weiter warten und schlafen, während uns Google rasend schnell davonläuft.

Die Widersprüche zwischen Europa und den USA

Gesundheit ist in Europa ein sozialer Wert. Sauge man aber die Gesundheitsdaten ab und mache man aus ihnen privatwirtschaftliche Werte, werde damit vor allem verdient. Der europäische Grundrechts-basierte Ansatz: „Daten und KI sind ein gemeinsames Gut“. Der Marktorientiere Ansatz: „Daten und KI sind Vermögenswerte“. Die Gefahr besteht laut de Witte darin, dass auch die EU bei der Schaffung des europäischen Datenraumes für Gesundheit in Richtung reiner Marktorientierung gehe: „In den Papieren wird 30 Mal das Wort Datenschutz erwähnt. Aber null Mal das Recht auf Gesundheit und null Mal das Recht auf Integrität (Art. 3; EU-Vertrag). Ebenso null Mal das Recht auf Freien Informationsaustausch (EMRK).“ Eine mögliche Lösung für die Problematik seien „Regenerative Systeme“ in der KI. Gesundheitsdaten aus der öffentlichen Sphäre und somit gemeinsames Gut werden vorübergehend in die private Sphäre zur Nutzung übergeführt, kommen schließlich aber wieder zurück, unterliegen keinen privatwirtschaftlichen Exklusivansprüchen. „Wir könnten unsere Gesundheitsdaten mit Copyleft Daten-Lizenzen für Open Source KI vorübergehend nutzbar machen. Open Source Systeme sind auch schneller“, sagte de Witte.

Das bekannteste und wohl erfolgreichste Beispiel für solches Handeln: das Human Genome Project. 14,5 Mrd. US-Dollar wurden in die Sequenzierung des menschlichen Genoms investiert, wobei die Erkenntnisse nicht patentiert werden durften und konnten. Völlig freier Zugang zu den Informationen brachte 965 Milliarden US-Dollar an wirtschaftlichem Gewinn.

Wir haben weiterhin Daten- silos. Die einzelnen Systeme sprechen nicht miteinander.

Ein Austrian Health Data Space?

„Wir müssen uns damit beschäftigen, wie wir mit dem European Health Data Space umgehen. Über uns zieht derzeit ein Jetstream hinweg, der Regen ablassen wird, aber wir haben keine Regenschirme“, sagte Prof. Dr. Dietmar Bayer, Vizepräsident der Steirischen Ärztekammer und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Telemedizin. Die Gesellschaft hat vor kurzem ein Positionspapier zum EHDS veröffentlicht. „Wir sehen in Österreich die Notwendigkeit der Schaffung eines Austrian Health Data Space (AHDS; Anm.)“, erklärte Bayer. Nur damit könne man die Alpenrepublik auf die Teilnahme im Rahmen der EU vorbereiten. „Sehr große Probleme haben wir mit einer Sekundärnutzung von Daten. Das darf nicht zu einem Geschäftsmodell werden“, betonte Bayer. Vorrangig müssten Gesundheitsschutz, Grundrechts- und Datenschutz bleiben. Dabei sei auch ELGA noch „löchrig“. „Wir haben keine Labor- und keine Radiologiedaten. Sie müssen kostenfrei zur Verfügung stehen“, sagte Bayer. „Wir brauchen unbedingt eine digitale Roadmap. Ärztinnen und Ärzte sind keine Technikverweigerer. Aber wir dürfen die Ärzteschaft und die nachfolgenden Berufsgruppen nicht mit der Neueinführung neuer Technologien überfordern“, betonte der Vizepräsident der steirischen Ärztekammer. Die Zusammenarbeit aller Beteiligten müsse immer möglichst frühzeitig beginnen. Die Etablierung des e-Impfpasses in Österreich könne hier als „Blaupause“ dienen. Aber, so Bayer: „Uns fehlt eine digitale Gesundheitsbehörde, welche die Koordination übernimmt.“

Wie kann ich so steuern, dass die PatientInnen die Hilfsmittel haben, mit denen sie optimal durch das Gesundheitssystem geführt werden.

Nicht weiter warten und schlafen!

„Wir sollten proaktiv mitgestalten. Die Frage ist, ob wir weiter warten und schlafen, während Google & Co. rasend an uns vorbeientwickeln“, sagte Prof. Mona Dür, Geschäftsführerin der Duervation GmbH und Präsidentin der Austrian Association of Occupational Science (AOS). Natürlich müsse es eine Vergütung für das System geben, wenn Gesundheitsdaten wirtschaftlich genützt würden. „Für mich ist Innovation unter Gewährleistung unserer europäischen Werte ganz wichtig. Es ist auch wichtig, dass wir die Bürgerinnen und Bürger hier mitnehmen. Der Datenschutz wird oft als Show-Stopper gesehen. Datenschutz ermöglicht aber erst viel“, erklärte Mona Dür. Unter Berücksichtigung der relevanten Sicherheitsaspekte könnte beispielsweise die Pharmaindustrie mit Real-Life-Daten von Patientinnen und Patienten viel zielgerichteter Forschung und Entwicklung betreiben.

Den Mangel an Datenaustausch im Gesundheitswesen hat DI Dr. Christa Wirthumer-Hoche als ehemalige Leiterin der Medizinmarktaufsicht (AGES) gerade während der COVID-19-Pandemie und den in der jüngeren Vergangenheit besonders virulent gewordenen Lieferengpässen bei Arzneimitteln täglich zu spüren bekommen. „Wir haben weiterhin Datensilos. Die Systeme sprechen nicht miteinander“, sagte sie. So zum Beispiel hätte man gehofft, das EU-System zur Identifizierung jeder einzelnen Arzneimittelpackung – ehemals aus Sicherheitsgründen gegen Fälschungen eingeführt – zur Steuerung der Versorgung einsetzen zu können. „Das hat leider überhaupt nicht funktioniert“, erklärte Christa Wirthumer-Hoche. Oft gehe es auch nicht darum, dass nicht geeignete Systeme vorhanden seien, sondern dass man Daten einfach nicht nutzen dürfe.

Man hat den Eindruck, die EU ist nicht mehr in der Lage, vernünftige Gesetze zu erlassen.

Primär müsse das Erreichen von Vorteilen für die Patientinnen und Patienten im Vordergrund stehen. Das sei außer Streit zu stellen, sagte Dr. Manfred Müllner, Geschäftsführer des Fachverbandes der Elektro- und Elektronikindustrie (FEEI). „Als ganz großes Thema sehe ich die Ressourcensteuerung. Wie kann ich so steuern, dass die Patientinnen und Patienten die Hilfsmittel haben, mit denen sie optimal durch das Gesundheitssystem geführt werden.“ Die Gesundheitsdaten bzw. ihre Verwendung dürften in der EU keinesfalls zu einem Thema der Medizinprodukte-Richtlinie werden. Sonst stelle das eine Vollbremsung bei der Entwicklung solcher Systeme dar. Als Grundvoraussetzung für einen Datenraum für Gesundheitsinformationen nannte Müllner vor allem zu schaffende einheitliche Datenformate. Ein „Set of Standards“ sei die unverzichtbare Grundlage. Nicht mit Kritik sparte auch Prof. Dr. Reinhard Riedl (Berner Fachhochschule). „Man hat den Eindruck, die EU ist nicht mehr in der Lage, vernünftige Gesetze zu erlassen. Diese Fähigkeit ist ihr abhanden gekommen.“ Man sollte zunächst auf europäischer Ebene klären, was man beim Digitalisierungsprozess im Gesundheitswesen wolle und was nicht. Österreich solle einen eigenen Datenspace erzeugen und dann mit geeigneten Partnern – zum Beispiel mit dem benachbarten Deutschland – Pilotprojekte durchführen.

Weniger ein Mangel an Daten als die fehlende Verknüpfung für positive Aspekte, das sei die Problematik, Dr. Sebastian Reimer, Datenschutzexperte (ILLIA-Intelligent Law & Internet Applications): „Es ist kein Widerspruch, Daten zu schützen und Daten zu verwenden.“ Als Zugangsort zu Daten aus dem Gesundheitsbereich könne man beispielsweise das Austrian Micro Data Center (AMDC) verwenden, das der Statistik Austria unterstellt sei. „Das AMDC ist EU-rechtlich abgesichert.“ Man sollte jedenfalls nicht ständig neue Gremien und Systeme schaffen, betonte der Experte. Anreize zur sicheren Nutzung seien für die einzelnen Anwender wichtiger als enorme Strafandrohungen.

Es ist kein Widerspruch, Daten zu schützen und Daten zu verwenden.

„Wenn wir alle Gesundheitsdaten einpflegen, muss die Allgemeinheit etwas davon haben“, forderte schließlich Andreas Röhrenbacher von der Hepatitis Hilfe Österreich. Es gebe noch wesentliche Defizite bei der Einbindung von Patientinnen und Patienten in relevante Entscheidungen in Österreich. „Meistens hat man Glück, wenn man sich auf europäischer Ebene zusammenschließt und in Brüssel laut wird. Dann wird etwas in Österreich auch umgesetzt“, so Röhrenbacher. Österreich habe in vielen Bereichen gegenüber der EU regelmäßig Bringschulden. Bei der Schaffung des Gesundheitsdaten-Space der EU sollte man jedenfalls trachten, früh dabei zu sein. 

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