Suche
Close this search box.

Die Kraft Europas gemeinsam nutzen

© Die Presse/Tanzer

Die Kraft Europas gemeinsam nutzen

© Die Presse/Tanzer

Gemeinsam mit Dr. Margarete Schramböck, Bundesministerin für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort, Rudolf Anschober, Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, Dipl.-Chem. Michael Kocher, Country President von Novartis Österreich, sowie Rebecca Guntern, Head of Sandoz Europe, wurden im Zuge eines Podiums­gesprächs die Fragen beleuchtet, wie Österreich krisensicher bleibt und warum zukünftig verstärkt auf die Kraft Europas gesetzt werden muss. Eines der Ziele der Diskussion war es, Entscheidungsträgerinnen und -träger wachzu­rütteln und ihnen zu demonstrieren, dass Politik und Industrie an einem Strang ziehen müssen, um die zunehmende Abhängigkeit von Asien in puncto Arzneimittelproduktion zu beheben. Die Veranstaltung der „Presse“ wurde von Mag. Eva Komarek, General Editor for Trend Topics der Styria Media Group, moderiert und warf einen kritischen Blick in die Zukunft der pharma­zeutischen Produktion, die vor allem eines ganz dringend braucht: Zusammen­arbeit ohne Wenn und Aber. | von Mag. Julia Wolkerstorfer

v. l.: Eva Komarek, Rudolf Anschober, Margarete Schramböck, Michael Kocher und Rebecca Guntern (via Video­zuschaltung)

Aus Kostengründen werden 80 Prozent aller generischer Wirkstoffe derzeit außerhalb der EU — vorwiegend in Asien — hergestellt. Die europäischen Lieferengpässe bei Arzneimitteln standen schon vor Ausbruch der Corona-Pandemie im Fokus, so beispielsweise im Zuge der Gesundheitsministerkonferenz, die Ende Jänner 2020 in Brüssel stattfand. Wirklich gebrannt hat das Thema, als COVID-19 gezeigt hat, dass die Auslagerung der Produktion nach Asien zu Abhängigkeiten führt, von denen es sich jetzt zu lösen gilt. Die gesperrten Grenzen haben diese Situation noch verschärft und gezeigt, dass es längst fünf nach zwölf ist. An einer Standortstärkung führt kein Weg mehr vorbei: „Lediglich 20 Prozent der in Europa zugelassenen generischen Wirkstoffe werden auch hier produziert. Das ist ein alarmierendes Zeichen“, so Michael Kocher, Country President von Novartis Österreich. Die Produktion von Generika und Antibiotika muss dringend in Europa gehalten werden. Im Tiroler Kundl gibt es die letzte voll-integrierte Penicillinproduktion der gesamten westlichen Welt. Eine eigens kreierte Task Force soll sicherstellen, die Produktion in Österreich halten zu können. Die Voraussetzung dafür ist das enge Zusammenwirken gesundheitlicher und wirtschaftlicher Komponenten.

Mit 14 Prozent Forschungs­prämie sind wir in Europa Spitze. Hinzu kommt eine Investitionsprämie von 14 Prozent für Life Science.

Verantwortung von Industrie und Politik

Corona hat bestehende Schwächen der Gesundheitsversorgung an die Oberfläche gebracht und verdeutlicht, dass wir in strategischen Bereichen krisenanfällig sind. Erforderlich sind jetzt österreichische bzw. europäische Eigenproduktionen, was vor allem auch der Engpass bei Schutzausrüstungen gezeigt hat. Insbesondere die Arzneimittelproduktion wird gemeinsame europäische Wege brauchen. Die EU-Ratspräsidentschaft, die ab Juli 2020 von Deutschland geführt wird, soll als Fundament dienen, um dieses Vorhaben zu manifestieren und bis Ende des Jahres ein Lösungsportfolio gemeinsam mit der Industrie zu realisieren. Im Fokus steht dabei unter anderem der Aufbau eines Monitoring Systems, um optimal beurteilen zu können, was auf nationaler Ebene geschafft werden kann und wo andererseits die europäische Rolle gebraucht wird.

Wir müssen bis Jahresende zu klaren entscheidenden Ergebnissen kommen und die negative Preisspirale durchbrechen.

Margarete Schramböck zufolge ist der Schulterschluss zwischen Politik und Industrie essenziell. Dabei darf die Nachfrage nicht außer Acht gelassen und es muss ein Augenmerk darauf gerichtet werden, international kompetitiv zu bleiben. Eine gut aufgestellte „wirtschaftliche Landesverteidigung“ muss im Bereich Innovation und Digitalisierung mithalten können, um die Resilienz des Landes zu erhöhen und den Transformationsschub in Prozessinnovation zu unterstützen.

Novartis setzt als eines der größten pharmazeutischen Unternehmen Österreichs einen gewichtigen Schwerpunkt auf die Versorgungssicherheit des heimischen Gesundheitssystems. Michael Kocher betrachtet Corona als Trigger für die spürbare größere Bereitschaft, das Thema zu diskutieren. Er betonte einerseits, dass die Abwanderung primär die Wirkstoffproduktion betreffe, und signalisierte die Notwendigkeit der Fokussierung auf Schlüsseltechnologien. Dabei müsse eine gesellschaftspolitische Lösung angestrebt werden, mit einem klaren Kostenbewusstsein, um entsprechende Preise im Markt zu erzielen. Einer Umfrage in Deutschland zufolge zeigt sich in der Bevölkerung eine grundsätzliche Bereitschaft, den Standort für Medikamente zu festigen, auch wenn dies zu einer Kostensteigerung führt.

Krisenunabhängigkeit erzielen wir nur dann, wenn Europa als eine Kraft auftritt.

Michael Kocher: „Wenn man bedenkt, dass eine Tagestherapie Antibiotika — die schließlich zu den ‚life saving drugs‘ zählen — günstiger ist als eine Packung Kaugummi, dann wird klar, dass wir diese negative Preisspirale dringend durchbrechen müssen.“ Darüber hinaus müssen Produkte, die in Österreich produziert werden, auch allen Menschen zugänglich gemacht werden. Die Forschungsprämie fungiert hier als große Unterstützung und essenzielles Schlüsselelement in der Standortfrage. Zukünftig sind weitere 14 Prozent Investitionsprämie für den Bereich Life Sciences mit Fokus auf Medikamente vorgesehen. Novartis würde in den Standort Österreich vertrauen — und investieren: Rund 100 Mio. Euro werden jährlich in die Tiroler Standorte investiert, hauptsächlich für die Entwicklung und Produktion innovativer Wirkstoffe.

Krise als Chance

Grundsätzlich würden sich die engen Kollaborationen in Österreich gut erweisen, es brauche dennoch europäische Lösungen, um problematische Marktkonzentrationen an nur einem Standort zu vermeiden. Rudolf Anschober zeigte sich optimistisch und skizzierte Europa als eine Kraft, die es jetzt zu nutzen gilt, um rasch zu einem substanziellen Handlungspfad zu gelangen. Was eine krisenunabhängige Versorgung braucht, ist ein guter barrierefreier und sozialverträglicher Zugang zur Medizin — für alle. Rebecca Guntern, Head von Sandoz Europe, machte dem Vorreiter Österreich Komplimente. Viele Länder würden betreffend die Krisenbewältigung nach Österreich blicken, da das Land mutig vorgegangen sei. In anderen europäischen Ländern gäbe es noch Nachholbedarf, um sich optimal auf eine mögliche zweite COVID-19-Welle vorzubereiten. Auch für Guntern steht fest, dass es nur gemeinsam klappt, die Produktion in Europa zu halten, und sie plädiert für eine Fokussierung auf systemrelevante Medikamente.

Herzstück Europäischer Binnenmarkt

Bundesministerin Schramböck zufolge ist es essenziell, die Transportfähigkeit auf Basis eines freien Güterflusses aufrechtzuerhalten, und sie kritisierte in diesem Zusammenhang das ausgerufene Exportverbot von Deutschland und Frankreich, das im Widerspruch zur Binnenmarktregelung steht. Auch wenn im Zuge einer Krise die Grenzen hochgefahren werden, müsse der Binnenmarkt als Kernelement der Europäischen Union aufrechterhalten bleiben. Rebecca Guntern ortete darüber hinaus im Bereich der Datensammlung Optimierungsbedarf. Es sei nicht leicht gewesen, relevante Daten zu erhalten, um diese möglichst rasch für medizinische Zwecke und weitere strategische Überlegungen nutzen zu können. Die Länder müssen sich überlegen, was ihnen strategisch wichtig erscheint, was sie konkret unter Versorgungssicherheit verstehen und welchen Anteil Europa in Eigenproduktionen investieren soll. Rudolf Anschober betonte die Notwendigkeit, jene Bereiche klar zu skizzieren, auf die man sich fokussieren will, was auch Margarete Schramböck unterstrich: Es brauche jetzt den Dialog zwischen Politik und Industrie sowie ein klares Verständnis darüber, wie hoch unser Sicherheitsbedürfnis in den jeweiligen Bereichen ist. Hierbei sei es auch wichtig, Prüfstellen und damit Kompetenz als Teil der Absicherung in Österreich zu halten. Diese und weitere Punkte müssen dringend im Zuge der bevorstehenden deutschen EU-Ratspräsidentschaft behandelt werden. Auch Michael Kocher appellierte an alle teilnehmenden Länder, innerhalb der nächsten sechs Monate zu klaren entscheidenden Ergebnissen zu kommen. Insgesamt beurteilt Kocher die Kooperation der Industrie mit der Politik zwar positiv, die Koordination auf EU-Ebene würde sich jedoch als sehr komplex und langsam erweisen, sodass er die Gefahr sieht, dass noch mehr Produktion im Gesundheitsbereich nach Asien abwandert.

Europa muss sich auf essen­zielle Arzneimittel fokussieren, wie Antibiotika oder notwendige Medikamente in der Inten­sivmedizin.

Positive Signale

Grundsätzlich sind die Stimmen aus Europa im Hinblick auf die Bereitschaft zur Teamarbeit sehr positiv. Die Expertinnen und Experten orten eine große Aufgeschlossenheit für weitere gemeinsame Schritte. Corona hat das globale Bewusstsein geschaffen, das es jetzt braucht, um gemeinsam mit der neuen EU-Kommission ins Handeln zu kommen, einfache Regelungen zu definieren und die Chance zu ergreifen, koordinierte Lösungen zu erarbeiten. Fazit: Essenziell ist neben der Durchbrechung negativer Preisspiralen die Kombination aus dem Schulterschluss zwischen Industrie und Politik sowie der Sicherstellung eines transparenten und patientenorientierten Zugangs zu innovativen Therapien für alle. Derzeit besteht noch keine Ausgewogenheit zwischen Investitionen und dem Zugang für Patientinnen und Patienten. Wenn ein Arzneimittel direkt in Österreich entwickelt wird, sich der Zugang für heimische Patientinnen und Patienten aber schwieriger erweist als in anderen EU-Ländern, zeigt sich eine Disbalance, die es zu beheben gilt.

© Fotocredit: Die Presse/Tanzer

Aktuelle Ausgabe

Nach oben scrollen