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Diabetes: Forderungen an die Gesundheitspolitik

Portrait Martin Clodi
© MANUELA EGGER- MOSER

Diabetes: Forderungen an die Gesundheitspolitik

Portrait Martin Clodi
© MANUELA EGGER- MOSER

Seit über 50 Jahren setzt sich die Österreichische Diabetes Gesellschaft (ÖDG) für die Anliegen der Menschen mit Diabetes mellitus ein und fordert die stetige Verbesserung der Versorgung von Betroffenen. Im Gespräch mit PERISKOP ging Prim. Univ.-Prof. Dr. Martin Clodi, Präsident der ÖDG, näher auf die diabetesbezogenen Brennpunktthemen sowie die Forderungen der ÖDG an die Gesundheitspolitik ein.

Carola Bachbauer, BA, MSc

Carola Bachbauer, BA, MSc

PERISKOP-Redakteurin

Im Fokus des Interviews standen die Präventionsmaßnahmen, neue Medikationen und das Disease Management Programm Therapie aktiv.

PERISKOP: Diabetes zählt zu den am weitesten verbreiteten Krankheiten in unserer Gesellschaft. In Österreich leiden derzeit über 600.000 Personen an Diabetes – Tendenz steigend. Welche Gründe hat diese Entwicklung und warum wird die Zuckerkrankheit immer noch von der Bevölkerung unterschätzt?

CLODI: Diese Tendenzen lassen sich anhand aktueller Zahlen der Gesundheit Österreich (GÖG) illustrieren. Auf Basis der Daten der Sozialversicherung liegt die geschätzte Prävalenz von Diabetes-Typ-2 in Österreich zwischen 730.000 und 890.000 Menschen. Das entspricht 8,17 bis 9,88 Prozent der Bevölkerung. Die Ursache dieser Entwicklung beruht auf der negativen Gewichtsentwicklung, d. h. auf der Zunahme des durchschnittlichen Körpergewichtes der europäischen Bevölkerung. In der Europäischen Union (EU) und in Österreich sind über 50 Prozent aller Menschen übergewichtig bzw. adipös. Rechnet man aus den 50 Prozent die Gruppe der adipösen Menschen heraus – Personen mit einem BMI über 30 kg/m² – sind das ca. 20 Prozent. Ob die österreichischen Daten exakt diesem europäischen Berechnungsmodell entsprechen, ist leider nicht genau erhebbar. Grund dafür ist, dass die österreichische Datenqualität in Bezug auf Diabetes aufgrund von Übergewicht oder anderen Faktoren leider nicht sehr gut ist.

Des Weiteren zeigen Daten aus den USA, dass die körperliche Aktivität in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen hat. Waren die Menschen 2009 noch 160 MET-Stunden pro Woche aktiv, waren es im Jahr 2020 nur mehr 142 MET-Stunden pro Woche und im Jahr 2030 werden es nur mehr 126 MET- Stunden pro Woche sein. (Die Abkürzung MET kommt aus dem Englischen und steht für Metabolic Equivalent of Task und dient dazu verschiedene körperliche Aktivitäten zu vergleichen und den Energieverbrauch einzuschätzen.) D. h. die Menschen werden schwerer und machen weniger Bewegung. Genau diese Faktoren führen durch Abnahme der Muskelmasse und Zunahme der Fettmasse, zu Insulinresistenz und verminderter Glukoseaufnahme. Es kommt dadurch zu einem früheren Ausbruch der Erkrankung. Grundsätzlich ist Diabetes-Typ-2 eine genetisch festgelegte Erkrankung und nicht eine Wohlstands- oder Volkskrankheit.

Auf Basis der Daten der Sozialversicherung liegt die geschätzte Prävalenz von Diabetes-Typ-2 in Österreich zwischen 730.000 und 890.000 Menschen. Das entspricht 8,17 bis 9,88 Prozent der Bevölkerung.

Welche Präventionsmaßnahmen können diesem Trend entgegenwirken? Auf welchen Ebenen sollte angesetzt werden?

Aus dem vorher Gesagten ergibt sich, dass das Ziel der Prävention mehr Bewegung und ein Normalgewicht sein muss. Auf welchen Ebenen man ansetzen soll, ist schwer zu sagen. Wichtig ist, dass man früh beginnt. Es sollten Initiativen im Vorschul-, Schul- und Teenageralter gesetzt werden. Zusätzlich müssen die Eltern angewiesen und auf das Risiko von Übergewicht und Adipositas hingewiesen werden. Es gibt in anderen Ländern sehr gute Initiativen. Diese reichen von der täglichen Sportstunde in der Schule bis zur Markierung von Lebensmitteln. Es gibt auch extreme Ideen, wie den Sozialversicherungsbeitrag abhängig vom Body-Mass-Index zu machen. Das befürworte ich nicht.

Österreich ist Spitzenreiter in der stationären Behandlung und bei Amputationen sowie bariatrischen Operationen. Neu am Markt sind medikamentöse Therapien, die auf GLP1-Rezeptor-Agonisten basieren. Allerdings sorgen diese in letzter Zeit für immer mehr Schlagzeilen als Schlankmacher-Medikamente. Wie problematisch sind diese auf Inkretinen basierenden Präparate bzw. in welchen Fällen wären diese und die neueste Version GLP1- und GIP-Rezeptor-Agonisten medizinisch indiziert?

Österreich wird immer als Spitzenreiter in der stationären Behandlung, bei Amputationen und bei nicht diagnostiziertem Diabetes angeführt. Zahlen belegen jedoch, dass dies nicht der Fall ist und Österreich sich im oberen Mittelfeld befindet. Dänemark gilt als Vorreiter in der Behandlung des Diabetes, jedoch haben die Dänen ähnliche Zahlen wie Österreich. Deutschland hat übrigens mehr stationäre Behandlungen bei Diabetes-Typ-2 vorzuweisen. Des Weiteren stimmen die Zahl der Amputationen laut einer Studie von Univ.-Prof. Dr. Harald Sourij, MBA, 2. stv. Leiter der Klinische Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie der Med Uni Graz, und Daten aus Tirol nicht. Woher die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) bzw. die International Diabetes Federation (IDF) ihre Daten herhaben, wissen wir nicht genau. Nach einem E-Mail-Austausch mit der IDF habe ich nun schwarz auf weiß, dass z.B. die Zahlen der undiagnostizierten Diabetes-Patientinnen und -Patienten im IDF-Atlas nur geschätzt wurden. Dies ist enorm problematisch, da die Politik Zahlen der IDF als valide annimmt und auf Basis dieser Zahlen handelt. Die ÖDG möchte dem entgegentreten. Eine Erhebung der Gesamtzahlen ist jedoch nicht einfach. Dazu würden wir Daten der Sozialversicherungen, der Krankenhausträger und aus anderen Bereichen benötigen. Diese sind uns jedoch nicht zugänglich. Es wäre hier eine Aufgabe der Politik und der Gesundheit Österreich Fakten zu erheben und diese z. B. über die ELGA auszuwerten.

Die neuen Medikamente GLP1-Rezeptor-Agonisten und die dualen Agonisten, die bisher auf dem Markt kamen und in Zukunft noch kommen werden, sind wirklich tolle innovative Medikamente, die definitiv einen Benefit in der Therapie und für Menschen mit Diabetes und Adipositas bzw. Übergewicht bringen und bringen werden. Wir können uns glücklich schätzen, dass die medikamentöse Therapie in den letzten ein bis zwei Jahrzehnten durchschlagende Erfolge gerade im Bereich der Stoffwechselerkrankungen gebracht hat. Hier kann auch die ganze Lipidstoffwechselsituation hinzugerechnet werden.

Die Österreichische Diabetes Gesellschaft sieht es als ihre Aufgabe, Maßnahmen zu setzen, die der Entstehung des Diabetes mellitus vorbeugen und gleichzeitig die Gesundheit und Lebensqualität von Menschen mit Diabetes mellitus verbessern. Welche Schwerpunkte hat die ÖDG diesbezüglich gesetzt?

Wir haben einige Initiativen wie die Bewegungsbox und die Ernährungsbox, die über die ÖDG bezogen werden können. Viele Vorstandsmitglieder sind in ihren jeweiligen Bundesländern in den Sozialversicherungen aktiv, um den Patientinnen und Patienten Schulungsvideos und Schulungsmaterial zur Verfügung zu stellen. Die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten steht hierbei im Vordergrund. Dies ist mit den Maßnahmen Bewegung und Gewichtsreduktion als Basis gesetzt. Im Weiteren sollten die Restriktionen, die auf manchen Medikamenten in der Erstattung liegen, reduziert werden. Auch hier versuchen wir, mit den Sozialversicherungsträgern in Kontakt zu treten.

Eine zentrale Forderung der ÖDG ist die Verbesserung der Betreuungsstruktur für Menschen mit Diabetes. Welche Maßnahmen werden hier besonders wichtig? Wie motiviert man Ärztinnen und Ärzte, bei Therapie aktiv mitzuwirken?

Wir sind der Meinung, dass das Disease-Management-Programm „Therapie aktiv“ durchaus ein Erfolg ist. Laut LEICON-Daten bekommen derzeit 460.000 Patientinnen und Patienten Medikamente. Aktuell haben wir 110.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei Therapie aktiv. Somit sind ca. 20 bis 25 Prozent aller medikamentös behandelten Patientinnen und Patienten bei dem Programm eingeschrieben. Zusätzlich steigt die Teilnehmerzahl von Jahr zu Jahr. Eine Evaluierung zu Therapie aktiv zeigt, dass die Versorgung für die Patientinnen und Patienten von Vorteil ist, Morbidität und Mortalität sinken und die Betreuungskosten zurückgehen.

Sie fordern außerdem ein nationales Diabetesregister. Wie soll dieses umgesetzt werden? Was hat eine Umsetzung bislang gebremst?

Wie schon oben angeführt kann die ÖDG ein nationales Diabetesregister nur fordern. Allein die schiere Anzahl an Patientinnen und Patienten mit Diabetes kann nur durch eine zentrale Bundesstelle überblickt werden. Dies wäre über ELGA gut und einfach möglich. Aus unserer Sicht sollten Bundesstellen daran arbeiten, brauchbare Zahlen zu bekommen. Warum es an der Umsetzung hapert, können wir leider nicht beantworten.

Die Unterstützung der Forschung und die Verbreitung von wissenschaftlichen Erkenntnissen ist eine wichtige Tätigkeit der ÖDG. Welche Forschungsthemen sollten besonders gefördert werden?

Ohne Wissenschaft und Forschung kann keine evidenzbasierte sinnvolle Weiterentwicklung der medizinischen Betreuung stattfinden. Die ÖDG vergibt alljährlich einen hochdotierten Forschungspreis, der allerdings in Bezug auf Kosten einer größer angelegten Studie nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist. Große Studien, wie zuletzt im Bereich des Diabetes, kosten zwischen 50 und 150 Millionen Euro. Aufgrund dessen sind wir hier besonders auf die Pharmaindustrie angewiesen. Hier sollten zusätzlich nationale Forschungsgrants in größerem Ausmaß zur Verfügung stehen. Des Weiteren sollten die EU sowie die einzelnen Bundesregierungen mehr in Wissenschaft und Forschung investieren.

Um Einschreibungen in das Programm "Therapie aktiv" zu fördern, wäre z. B. eine verpflichtende Teilnahme für alle Wahlärztinnen und -ärzte sowie Kassenpraxen wünschenswert.

Die langjährige Forderung der ÖDG bezüglich der österreichweiten Erstattung der Bestimmung des Langzeitblutzuckerwertes HbA1c für den gesamten niedergelassenen Bereich von der Österreichischen Gesundheitskasse wurde im Jahr 2021 erfüllt. Warum ist dieser Wert für die Diabetes- vorsorge und Früherkennung wichtig?

Die Bestimmung des Werts ist wichtig, um zu erkennen, in welchem Blutzuckerbereich ein Mensch – eventuell eine Patientin, ein Patient – angekommen ist. Ist der HbA1c- Wert grenzwertig, sollte ein oraler Glukosetoleranztest angeschlossen werden, um die Diagnose zu sichern. Würden wir heute diese Untersuchung in ganz Österreich durchführen, könnten wir nach den Zahlen der Gesundheit Österreich 100.000 Personen mit einem Diabetes neu diagnostizieren. Hier ist es wichtig, anzuführen, dass die Entwicklung des Diabetes progredient ist. D. h., Personen, die heute im April noch annährend normale Blutzuckerwerte haben, können im Dezember schon an Diabetes erkrankt sein. Somit handelt es sich hierbei um keinen statischen Befund, sondern um etwas, das sich im Lauf der Zeit natürlich entwickelt. Deshalb hoffen wir, dass die HbA1c-Bestimmung auch in die Vorsorgeuntersuchung aufgenommen wird.

Es besteht schon seit Längerem die Forderung, die Diabetesversorgung im niedergelassenen Bereich zu verbessern. Welche Aufgaben könnten hier PVE/Diabeteszentren/Facharztpraxen für Endokrinologie spielen?

Am besten läuft die Diabetesversorgung im niedergelassenen Bereich in Ordinationen, die beim Programm „Therapie aktiv“ mitmachen. Um Einschreibungen in das Programm „Therapie aktiv“ zu fördern, wäre z. B. eine verpflichtende Teilnahme für alle Wahlärztinnen und -ärzte sowie Kassenpraxen wünschenswert. Für Primärversorgungseinheiten (PVE) ist diese bereits obligatorisch. Ein wesentlicher Punkt sind die Diabeteszentren. Diese spiegeln die sogenannte zweite Ebene wider und sind das Bindeglied zwischen dem niedergelassenen Bereich und den Spitalsambulanzen. Spitalsambulanzen sollten nur für akute Komplikationen und komplexe Probleme zuständig sein. Denn sie sind sehr teure Instrumente und nehmen die wichtige ärztliche und pflegerische Ressource der Krankenhäuser in Anspruch. Daher ist es ratsam, weitere Diabeteszentren österreichweit zu initiieren. In Wien Favoriten wurde das erste Diabeteszentrum im März eröffnet und es werden wahrscheinlich in anderen Bundesländern weitere folgen. Das ist auf jeden Fall wünschenswert. 

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