Bereits vor der Pandemie machten Lieferengpässe bei Arzneimitteln Schlagzeilen. COVID-19 verschärfte die Situation vorübergehend enorm. In Österreich und Europa wird an vielen Schrauben gedreht, um künftig Krisen zu verhindern. Doch es geht noch um mehr: Die Medizin der Zukunft hängt von robustem und sicherem Datenaustausch ab, so Expertinnen und Experten bei den PRAEVENIRE Gesundheitstagen in Seitenstetten.
Wolfgang Wagner
Gesundheitsjournalist
Viele Jahre lang funktionierte die Arzneimittelversorgung in Österreich und Europa ziemlich klaglos – und das in einer zunehmend globalisierten Welt und immer länger werdenden Lieferketten. Doch seit einigen Jahren gibt es Probleme: Immer mehr Arzneimittel sind von Lieferengpässen betroffen. Mit COVID-19, vorübergehenden Grenzsperren und Exportstopps ging es plötzlich um breit gefächertes Krisenmanagement.
Das europäische Heads of Medicines-Netzwerk (HMA) als Zusammenschluss der Arzneimittelbehörden der Staaten des europäischen Wirtschaftsraumes entwickelt Strategien für die Krisenvorsorge. Dr. Christa Wirthumer-Hoche, Chefin der österreichischen Medizinmarktaufsicht (AGES) dazu:
„An erster Stelle steht die Verfügbarkeit von Arzneimitteln. Was haben wir davon, wenn wir Arzneimittel entwickeln und zulassen, wenn die Medikamente dann nicht verfügbar sind?“
Voranzutreiben sei aber auch die digitale Transformation zur Sammlung und Analyse wichtiger Daten. Innovation sei der nächste entscheidende Faktor. „Wir müssen forschen und entwickeln,“ so die Expertin.
Ein vierter Punkt, der immer wichtiger wird, seien laut Christa Wirthumer-Hoche Antimikrobielle Resistenzen. Es gebe Prognosen, die aussagen, dass die Resistenzen zu Millionen Todesopfern führen werden. Und dann seien da noch die Versorgungs- und Lieferketten. Es sei unrealistisch, dass wir alle Produktionen wieder nach Europa bekommen. Aber man müsse Systeme und Abläufe robuster und ausfallsicherer machen.
Es ist unrealistisch, dass wir alle Produktionen wieder nach Europa bekommen. 80 Prozent der Engpässe sind nicht überall. Wir können uns gegenseitig helfen.
Christa Wirthumer-Hoche
Lücken aus der Vergangenheit
Freilich, COVID-19 hat offenbar in vieler Hinsicht ein Schlaglicht auf verschiedenste Defizite im Gesundheitswesen, somit auch in der Arzneimittelversorgung, geworfen. Ein Beispiel: In Europa gab es keine einheitliche Definition, was überhaupt ein Arzneimittelengpass ist. Ähnliches galt für den so genannten „unmet medical need“ – nicht erfüllter Bedarf. Zulassungsbehörden waren plötzlich mit der Forderung nach Bedarfsberechnungen konfrontiert. Dies war viele Jahre lang ausschließlich Aufgabe der Pharmaindustrie gewesen. Nun sollen Industrie, Behörden und Gesundheitseinrichtungen (vor allem die Krankenhäuser) zusammenwirken, um einen Überblick zu behalten.
Ein Mittel, um plötzlichen negativen Überraschungen – etwa die geplante Einstellung einer Produktionslinie für ein Medikament – zu begegnen, ist die in Österreich verankerte Meldepflicht für solche Schritte. Christa Wirthumer-Hoche dazu: „Wir haben mit zwei Monaten begonnen und auf vier Monate erhöht.“ Per Verordnung sind in Österreich alle
Pharmaunternehmen verpflichtet, Meldung zu erstatten, wenn ein rezeptpflichtiges Humanarzneimittel länger als zwei Wochen vollständig ausfallen oder länger als vier Wochen nur eingeschränkt verfügbar sein könnte. Es handelt sich um komplexe Probleme, denen auf den verschiedensten Ebenen begegnet werden muss: Von den Arzneimittelbehörden durch richtige und zielgenaue Steuerung und Datenanalyse zur Ursache von Schwierigkeiten, von der EU durch entsprechende neue legistische Regelungen, durch Optimierungsschritte über den ganzen Lebenszyklus von Arzneimitteln (von Entwicklung am Anfang bis zu langjähriger Existenz am Markt mit Patentverlust etc.).
Wir haben eine kontinuierliche Produktionsanlage in Graz auf 40 Quadratmetern aufgebaut. Wir können 10 Millionen Tabletten pro Woche herstellen und Österreich damit versorgen.
Johannes Khinast
Entscheidend sind schnelle Reaktion und Datenaustausch. Die Expertin: „Wir haben in der Pandemie einige Dinge gelernt. So haben wir bei Bedarf auch die Kennzeichnung von Arzneimitteln auf Englisch akzeptiert – mit Beifügung der Gebrauchsinformation in der Landessprache.“ Der Weg führe auch zu elektronischen oder per QR-Code abrufbaren Gebrauchsinformationen. Über Europa hinweg sollen auch die Information über Verfügbarkeit und Mengen für Arzneimittel ausgetauscht werden.„80 Prozent der Engpässe sind nicht überall. Wir können uns gegenseitig helfen,“ So Christa Wirthumer-Hoche. Netzwerkbildung übernational und Netzwerkbildung national sind hier entscheidend. „Es ist wichtig, alle Akteure an einen Tisch zu bekommen.“
Eine von der EU in Auftrag gegebene Studie hat übrigens die häufigsten Ursachen für Engpässe dokumentiert: Zu 51 Prozent beruhen sie auf Problemen in der Herstellung. Zu 25 Prozent stecken kommerzielle Gründe dahinter, 9 Prozent machen Fälle von plötzlich unerwartet großem Bedarf aus, 8 Prozent Distributionsprobleme, 4 Prozent regulatorische Angelegenheiten und 1 Prozent plötzliche Katastrophenfälle (Rest unbekannter Ursache).
Schlanke, kleine, automatisierte Produktionsanlagen
Von der Seite der Arzneimittelproduktion gehen es die Wissenschafter unter Univ.-Prof.
Dr. Johannes Khinast vom Research Center Pharmaceutical Engineering (TU Graz) an. „Was wir sehen, ist, dass die Produktion in Zukunft immer komplexer sein wird. (…). Das Medikament ist kein einfaches ‚Pulverl‘ mehr, es ist ein komplexes Produkt aus unterschiedlichen Komponenten, die alle aus unterschiedlichen Regionen der Welt kommen.“ „Supply chain shortages gibt es überall. 2019, noch vor der Pandemie, hatte die AGES 323 Arzneimittel mit Lieferproblemen in ihrem Register. Und die Lieferketten beginnen im Allgemeinen in Asien. China ist der große Hersteller von 80 bis 90 Prozent der Wirkstoffe. In einer globalisierten Welt ist das kein Problem. Aber wir sind komplett abhängig und haben damit genau so ein Problem wie mit der Abhängigkeit von russischem Gas“, sagte der Experte.
Ein von den Grazer Technikern deshalb in Projekten vorangetriebener möglicher Ausweg:
Kleine, möglichst vollautomatisch und kontinuierlich laufende Arzneimittel-Produktionsanlagen, die an sieben Tagen die Woche 24 Stunden lang Medikamente herstellen können. „Derzeit braucht es ein halbes Jahr bis ein
Jahr, um ein Medikament zu produzieren“, erklärte Khinast. Traditionelle Pharmaproduktion dauere 200 bis 300 Tage, bis das Produkt vorliege, „Lean Production“ schaffe es binnen 100 bis 150 Tagen. Ein Grund dafür sind Großanlagen, die in riesigen Batches und 100.000-Liter-Containern produzieren, dann abgestellt und auf andere Produkte/Arzneimittel umgestellt werden und dann den Zyklus von neuem beginnen.
Mit „Advanced Pharmaceutical Manufacturing“ mit kontinuierlich laufenden Herstellungsprozessen könne man diesen Zeitraum bis zur Aufnahme einer neuen Produktion auf sieben bis zehn Tage reduzieren. Die Qualität werde in Real-Time während der Produktion kontrolliert. Die Prozesse seien skalierbar, die Produktion insgesamt ökonomisch. „Wir
haben eine kontinuierliche Produktionsanlage in Graz auf 40 Quadratmetern aufgebaut und können damit 10 Millionen Tabletten pro Woche herstellen. Damit könnte man ganz Österreich mit einem Arzneimittel versorgen. Das gleiche werde in Zukunft auch für Vakzine, mRNA- und Nanoprodukte etc. möglich werden und lokale, auf lange Transportwege nicht angewiesene Produktionen möglich machen.
„Wir sind guter Hoffnung, in der Steiermark eine Pilotanlage mit 600 Quadratmetern auf drei Stockwerken bauen zu können“, sagte Khinast. Man wolle sich zunächst auf Beispiele mit Arzneimitteln aus der WHO-Liste der essenziellen Medikamente konzentrieren. „Ich glaube, das ist eine Revolution.“ Es gebe mit dieser Fast-Track-Produktion auch die Möglichkeit einer (Pharma-)Reindustrialisierung in Europa.
Wir haben so viele Silos im Gesundheitssystem. Wenn die Patientinnen und Patienten im Zentrum stehen, funktioniert das am ehesten.
Ruth Ladenstein
Daten, Daten, Daten
Mit ihrer „Mission on Cancer“ will die EU bis 2030 die Lebensqualität von rund drei Millionen Patientinnen und Patienten verbessern und ihr Leben verlängern. Was dafür notwendig ist: Daten, Daten, Daten. Sie müssen qualitativ hochwertig und nutzbar sein. Initiativen dazu stellten Univ.-Prof. Dr. Ruth Ladenstein, Leiterin der Abteilung für Studien und Statistik an der St. Anna Kinderkrebsforschung in Wien, dar.
Ein Paradebeispiel dafür seien Krebserkrankungen von Kindern, die im Prinzip „selten“ sind. Für klinische Studien in diesem Bereich gehe es speziell um die Frage: „Wie können wir Daten besser verfügbar machen?“, erklärte die Expertin. So habe man es beispielsweise geschafft, über die OKIDS-Initiative Studien mit mehr als 1.000 Patientinnen und Patienten abzuwickeln. Für den Bereich des Neuroblastoms mit im Jahr nur fünf bis acht betroffenen Kindern in Österreich hätte man über ein internationales Netzwerk und webbasierten Datenregister 3.500 Erkrankte aus dem Hochrisikobereich rekrutieren können.
Wir sind nur an anonymisierten Daten interessiert. Wir brauchen Real-World-Daten, zum Beispiel bei seltenen Erkrankungen.
Johannes Pleiner-Duxneuner
Für Krebspatientinnen und Krebspatienten geht es im Grunde um eine langfristige und optimale Betreuung. In der EU soll das mit einem „European Cancer Patient Digital Centre“ möglich werden – mit Informationen und Unterstützung für Betroffene und ihre Angehörigen, Zugang zu den eigenen klinischen Daten mit der Möglichkeit, diese für Forschung etc. bereitzustellen, die Erfassung der von den Betroffenen berichteten Ergebnissen der medizinischen Behandlung (patient-reported outcomes) und das Empowerment von Patientinnen und Patienten und Krebsüberlebenden zu informierten Entscheidungen und Teilnahme an Forschung.
„Wir haben so viele Silos im Gesundheitssystem“, sagte Ruth Ladenstein. Die könne man nur überwinden, „wenn die Patientinnen und Patienten die Fäden in der Hand haben.“ Sie sollten über ihre Gesundheitsdaten verfügen und diese eventuell auch „stiften“ können. Dazu sei es notwendig, die im Gesundheitssystem auftauchenden Informationen besser auf das Wichtige zu kondensieren, im Bedarfsfall aber griffbereit zu haben. Ob PatientInnen und Patienten nun eine Handy-App dafür hätten oder dies auf anderem sicheren Weg geschehe, sei zweitrangig. Bei Krebspatientinnen und Krebspatienten könnte so von den ersten diagnostischen Schritten bis zum „Outcome“ die „Patient Journey“ dokumentiert, für alle Beteiligten jederzeit abrufbar und für die Forschung nutzbar gemacht werden. „Wenn die Patientinnen und Patienten im Zentrum stehen, funktioniert das am ehesten“, sagte die Expertin.
Chancen für die Zukunft
Um die Sammlung von Daten geht es im Gesundheitswesen der Zukunft inklusive der medizinischen Forschung gar nicht. Zwischen 2012 und 2022 hat sich die Menge der erhobenen Gesundheitsdaten in den USA um den Faktor 15 erhöht. Sie stammen aus Registern, Abrechnungsanträgen, Diagnostik (inklusive Gewebe- und Genomdatenbanken), aus digitalen Gesundheits-Apps, elektronischen Patientenakten, Kohortenstudien und Umfragen etc. Doch wirklich übergreifend nutzbar sind diese Informationen bisher kaum.
„Wir sind nur an anonymisierten Daten interessiert“, sagte Dr. Johannes Pleiner-Duxneuner (Gesellschaft für pharmazeutische Medizin). Diese könne man aber in verschiedenster Form für die Zukunft nutzen – und zwar in
der Forschung, in der Entwicklung und in der Anwendung von Therapien. Zur Bestimmung von Patientenpools, für die Generierung von Hypothesen, zur Abschätzung von potenziellen Studienteilnehmerinnen und Studienteilnehmern, in der Bildung von „virtuellen“ Kontrollgruppen und zur Bedarfsabschätzung für neue Therapien in der „Real World“.
Pleiner-Duxneuner dazu: „Wir brauchen Real-World-Daten, zum Beispiel bei seltenen Erkrankungen. Nur 5 Prozent der Patientinnen und Patienten befinden sich in Studien. Aber auf diesen 5 Prozent beruhen 100 Prozent der wissenschaftlichen Evidenz.“ Fragen wie „Wie lange profitiert jemand von einer Intervention?“, „Wie ist es im Vergleich zu anderen Interventionen?“ etc. ließen sich nur damit beantworten. Klinische Studien können nur eine beschränkte Aussagekraft haben. Sicherheit von Therapien, ihre Wirksamkeit in der klinischen Routine und Informationen
für innovative Zahlungs- und Abrechnungsmodelle lassen sich nur aus solchen Daten bestimmen. In der Arzneimittelentwicklung werde es in Zukunft wohl zu einem hybriden System mit Daten aus klinischen Studien und aus der realen Welt kommen.
„Mit ELGA hat Österreich prinzipiell gute Voraussetzungen“, sagte der Experte. Entscheidend seien aber die Qualität der Daten, die Interoperabilität und natürlich auch rechtliche Fragen. Auf EU-Ebene sei gerade ein erster Entwurf für den geplanten „European Health Data Space“ vorgelegt worden. „Ich hoffe, dass wir vorher bereit sind“, sagte Pleiner-Duxneuner.
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