Sie ist Leiterin der AGES Medizinmarktaufsicht, verfahrensleitendes Mitglied des Bundesamts für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) und erste weibliche Vorsitzende des Management Boards der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA): DI Dr. Christa Wirthumer-Hoche plädiert in Krisenzeiten für eine kommunikative und operative Vernetzung internationaler Gesundheitsbehörden. Das Ziel: eine nachhaltige Vorsorge- und Reaktionsfähigkeit und die Stärkung Europas als pharmazeutischer Forschungs- und Wirtschaftsstandort. | von Lisa Türk, BA
In enger Zusammenarbeit mit dem Geschäftsfeld Medizinmarktaufsicht der Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) begleitet das BASG auf nationaler und internationaler Ebene eine Vielzahl an Aktivitäten rund um den Lebenszyklus eines Arzneimittels. Dazu zählen unter anderem wissenschaftliche Beratung, Freigabe klinischer Prüfungen, Bewertung von Zulassungsunterlagen, Arzneimittelzulassung, Inspektionswesen, Laborkontrollen und Pharmakovigilanz (Arzneimittelsicherheit). Hinzu kommen Aufgaben im Zusammenhang mit dem Aufbau österreichischer Netzwerke und die Mitarbeit bei der Implementierung neuer Gesetzeswerke innerhalb der Europäischen Union.
Im Bereich der Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostika obliegen BASG/AGES Medizinmarktaufsicht die Marktüberwachung und Vigilanz — nicht aber die Zulassung. Denn je nach Klasse des Medizinprodukts liegt diese entweder ausschließlich in der Verantwortung des Herstellers oder erfolgt im Zuge eines Konformitätsbewertungsverfahrens bei einem Notified Body — und diese benannten Stellen sind verstreut in der EU zu finden. Ein CE-Kennzeichen ermöglicht dann den Vertrieb in der gesamten EU.
„Ein relativ neuer Kompetenzbereich hat sich bereits im Laufe der letzten zehn bis 15 Jahre sowohl im intra- als auch im extramuralen Bereich in Verbindung mit der Verfügbarkeit von Arzneimitteln und Lieferengpässen abgezeichnet“, erläutert Dr. Christa Wirthumer-Hoche im Gespräch mit Periskop. Gerade die Coronapandemie hat klar gezeigt, dass es in Krisensituationen häufig zu einem sprunghaften Anstieg des Bedarfs an bestimmten Arzneimitteln kommt — speziell in der Intensivmedizin. BASG und AGES Medizinmarktaufsicht (AGES MEA) haben in Österreich durch die Intensivierung des Knüpfens von Informationsnetzwerken angesetzt. „Lieferengpässe sind allerdings kein rein nationales, sondern vielmehr ein globales Problem, das es weltweit und somit nachhaltig in Angriff zu nehmen gilt“, betont die Leiterin der AGES Medizinmarkaufsicht.
Bezüglich der Vermarktung von Arzneimitteln muss aber klar festgehalten werden, dass es eine strikte Trennung zwischen der Begutachtung und der Beschaffung gibt. „Wir im BASG sind für die Begutachtung zuständig. Mit finanziellen Überlegungen sowie Strategien im Sinne der Beschaffung und Impfstrategien haben wir nichts zu tun. Dazwischen ist eine Firewall“, betont die Expertin. Denn keineswegs dürfe der finanzielle Faktor in die Prüfung auf Qualität, Wirksamkeit und Sicherheit eines Arzneimittels mit einfließen.
BASG unter Top 5 der EU-Behörden
Im europäischen Netzwerk hat sich das BASG bei der Begutachtung von Zulassungen „eine wirklich beachtliche Position erarbeitet. Als ich 2013 die Leitung der AGES Medizinmarktaufsicht übernommen habe, wollten wir unter die Top 10 kommen. Wir haben unsere Zielsetzung geschärft — mit Erfolg. Österreich zählt heute im EU-Netzwerk aus nationalen Behörden und EMA zu den Top 5 Partnern“, berichtet Wirthumer-Hoche.
Im zentralen Zulassungsverfahren können sich die Gesundheitsbehörden der Mitgliedstaaten um die hauptverantwortliche Rapporteurschaft oder Co-Rapporteurschaft bewerben. Ausgewählt werden jene Rapporteure, mit denen man im Laufe der Jahre besonders gute Erfahrungen gemacht hat. Das BASG steht hier im EU-Ländervergleich aufgrund seiner hohen wissenschaftlichen Expertise sogar ganz vorne — an der Spitze. Wirthumer-Hoche: „Ich bin wirklich sehr stolz auf mein hoch engagiertes Team, das unermüdlich Unglaubliches leistet — aktuell im Zusammenhang mit der Begutachtung von COVID-19-Therapeutika und -Vakzinen. Unter Zeitdruck. Tag und Nacht. Im Homeoffice.“
Virtuell findet die europäische Zusammenarbeit im zentralen Verfahren nun bereits seit über einem Jahr statt. Auf EU-Ebene sorgen zusätzliche wöchentliche Telekonferenzen und Updates zur Arzneimittelversorgung, Bedarfserhebung und zu etwaigen Lieferengpässen hinsichtlich COVID-19-Therapeutika sowie -Impfstoffe generell, für eine sehr gute Informationsvernetzung und somit für raschere Lösungsansätze. Wirthumer-Hoche: „Wir haben auf EU-Ebene bereits vier Impfstoffe nach einem engmaschigen Zeitplan geprüft, zugelassen und konnten dank des ausgezeichneten europäischen Pharmakovigilanzsystems selbst jene Fälle erkennen, die von sehr seltenen Nebenwirkungen betroffen waren. Das schafft nur ein wirklich gut vernetztes System.“
EMA an vorderster Front
Auch Vernetzung und Verhältnis zwischen BASG/AGES Medizinmarktaufsicht und EMA seien „bestens“. Christa Wirthumer-Hoche ist seit 2016 Vorsitzende des EMA-Management Boards. Im März 2019 erfolgte ihre Wiederwahl für einen Zeitraum von drei Jahren. Aufgrund des Brexit war die EMA, mit früherem Sitz in London, zunächst mit einer Übersiedelung konfrontiert. Amsterdam setzte sich gegenüber seiner EU-Mitbewerbern — darunter auch Wien — als neuer Sitz durch. Zunächst blieb ein Teil der Belegschaft in London, der andere Teil übersiedelte nach Amsterdam in ein Interimsgebäude. Der Einzug in das neue Gebäude war ursprünglich für März 2020 geplant. „Während der Vorbereitungszeit auf den Brexit und der Umzugsphase arbeiteten wir in der EMA einen Business Continuity Plan aus, um die Sicherstellung der wichtigsten Aufgabenbereiche zu gewährleisten. Dann kam COVID-19 und damit verbunden der Umstieg auf eine rein virtuelle Zusammenarbeit. Zusätzlich zu den planmäßigen Meetings kamen noch zahlreiche außerordentliche Meetings des Management Boards sowie noch nie da gewesene Herausforderungen als Draufgabe hinzu“, blickt Wirthumer-Hoche zurück. Und nicht nur der Brexit, sondern vor allem auch die Pandemie, haben Schwachstellen und Lücken der europäischen Gesundheitsversorgung aufgezeigt.
Die Vorsitzende des Management Boards betont an dieser Stelle die Bedeutung der Stärkung des Mandats der EMA und somit die Einbindung weiterer Expertinnen und Experten in den Prozess der Entwicklung neuer COVID-19-Therapeutika und -Vakzine. „Seit April 2020 steht eine spezialisierte wissenschaftliche Taskforce (ETF) den Pharmaunternehmen für wissenschaftliche Beratung zu klinischen Studien und Produktentwicklung Rede und Antwort“, so Wirthumer-Hoche.
Zum anderen verweist sie auf die Beschleunigung des zentralen Zulassungsverfahrens: die zusätzliche Möglichkeit des sogenannten Rolling-Reviews. Dabei erfolgt die Begutachtung von bereits vorhandenen Datenpaketen noch bevor das „reguläre“ zentrale Verfahren nach Vorlage aller erforderlichen Unterlagen seitens des Antragstellers startet. Wirthumer-Hoche: „Rolling Review ist ein Produkt der Krise, das uns — zumindest zu gewissen Teilen — erhalten bleiben wird.“ Sie gibt allerdings zu bedenken, dass Experten in der Begutachtung derzeit thematisch sehr fokussiert vorgehen. „Das wird künftig nicht immer so sein können. Wir benötigen auch Ressourcen für die Non-COVID-19-Produkte, es gibt auch andere wichtige innovative Arzneimittel.“
Es muss gewährleistet sein, dass jede Patientin und jeder Patient ihr bzw. sein Arzneimittel bekommt, dass die Produktionskapazität angekurbelt und der zusätzliche Bedarf gedeckt wird.
Christa Wirthumer-Hoche
Ein weiterer Punkt im erweiterten Mandat der EMA sind die Bemühungen zur Koordinierung einer sicheren Bereitstellung von Arzneimitteln und Medizinprodukten. Eine hochrangige Lenkungsgruppe der EU zur Überwachung möglicher Engpässe bei Arzneimitteln wurde dringlichkeitsbedingt zwar eingerichtet, jedoch gibt es auf EU-Ebene derzeit noch keinen derartigen operativen Mechanismus.
Schaffung einer EU-Gesundheitsunion
Die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen hat in ihrer Rede zur Lage der Union im September 2020 erste Schritte zur „Schaffung einer europäischen Gesundheitsunion“ angekündigt, um die krisenbedingten Zusatzaufgaben nachhaltig zu bewältigen. Ein künftiger Baustein der Gesundheitsunion wird die European Health Emergency Response Authority (HERA), eine eigene EU-Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen sein. „Die HERA soll auf EU-Ebene eine spezielle Struktur im Zusammenhang mit Unterstützung, Entwicklung, Herstellung und Einsatz medizinischer Gegenmaßnahmen bei grenzüberschreitenden Gesundheitskrisen bieten“, führt Wirthumer-Hoche aus. Ein wichtiger Fokus wird auf der (Weiter-)Entwicklung und Zulassung der COVID-19-Vakzine liegen. Die große Herausforderung dabei: die Mutationen. Es gilt, diese in internationaler Zusammenarbeit einerseits so rasch wie möglich nachzuweisen und andererseits bereits bestehende Impfstoffe bestmöglich zu adaptieren. „Zusätzlich ist es essenziell, in der Impfstoffzulassung präventiv ein effizientes regulatorisches System ohne bürokratische Hürden weiter auszubauen. Daher hat man auf EU-Ebene die Gesetzgebung für Änderungsanträge adaptiert, um bereits vorhandene Impfstoffe rasch anpassen und schlussendlich auch für Mutationen genehmigen zu können — als monovalenten Impfstoff oder Kombinationsimpfstoff“, erklärt Wirthumer-Hoche.
Ein weiteres Hauptaugenmerk der HERA knüpft an die Erhöhung der Produktionskapazität, somit Erfassung von Engstellen und einem EU-Netzwerk für klinische Prüfungen an. „Es muss gewährleistet sein, dass jede Patientin und jeder Patient ihr bzw. sein Arzneimittel auch bekommt, dass die Produktionskapazität angekurbelt und der zusätzliche Bedarf gedeckt werden können“, sagt Wirthumer-Hoche.
Einigkeit auf Nationalebene
In diesem Zusammenhang stehen auf nationaler Ebene weitere krisenbedingte Veränderungsprozesse und Herangehensweisen an. Prä-Corona arbeiteten BASG und AGES Medizinmarktaufsicht primär sehr erfolgreich mit dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG), den anderen EU-Behörden und der EMA zusammen. Im Zusammenhang mit der Bedarfserhebung und Verteilung von Arzneimitteln haben sich der direkte Austausch und die Zusammenarbeit mit den Bundesländern nun ebenfalls als sehr wichtig herausgestellt. „Das vom BASG gemeinsam mit den Anstaltsapothekerinnen und —apothekern implementierte System der gerechten Verteilung von bestimmten Arzneimitteln hat sich im intramuralen Bereich bestens bewährt. Es war uns wichtig, ein Verteilungsschema zu erarbeiten, um die gerechte Verteilung von COVID-19-Therapeutika sicherzustellen“, erläutert die Leiterin der AGES Medizinmarktaufsicht. Hier setze das BASG allem voran auf ein einvernehmliches Verständnis zwischen Bund und Ländern.
Pharmastrategie der Europäischen Kommission — vier Säulen
Nationale Einigkeit und Maßnahmen zur Schaffung einer EU-Gesundheitsunion ebnen den Weg, um gemeinsam an einem Strang zu ziehen, gemeinsam ein zukunftsfestes und krisensicheres Pharmasystem für Europa zu schaffen. „Natürlich war das letzte Jahr dadurch gekennzeichnet, dass die einzelnen Behörden an nationalen Strategien mit ihren eigenen Kernthemen gearbeitet haben — darunter auch wir im BASG und der AGES MEA, die wir uns stets an der Strategie des EU-Netzwerks orientiert haben. Denn man muss natürlich immer darauf achten, dass nationale Strategie, EMA-Strategie und schließlich die Strategie der Europäischen Kommission Hand in Hand miteinander gehen“, betont Wirthumer-Hoche.
Die pharmazeutische Strategie der Europäischen Kommission stützt sich auf vier Säulen, die legislative und nicht-legislative Maßnahmen umfassen. Die erste Säule befasst sich mit der Stärkung des europäischen Forschungs- und Wirtschaftsstandortes auf der Weltbühne unter Berücksichtigung der durch COVID-19 aufgezeigten Schwachstellen. Hier gilt es, die entsprechenden Verbesserungsmaßnahmen zu treffen, Prozesse zu vereinfachen und zu straffen — Stichwort Rolling Review. „Innovation und Fortschritt in der Arzneimittelzulassung finden natürlich stets unter der Wahrung der Grundprinzipien von Sicherheit, Wirksamkeit und Qualität statt“, stellt Wirthumer-Hoche in diesem Zusammenhang sicher.
Die zweite Säule befasst sich mit der Implementierung eines entsprechenden regulatorischen Umfelds, das für Neuerungen und Investitionen attraktiv ist und auf einen zukunftssicheren Rechtsrahmen, der die Industrie unterstützt, baut. Forschung und neue Technologien, Förderung der Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und Nachhaltigkeit der pharmazeutischen Industrie der EU und die Entwicklung hochwertiger Arzneimittel sind die Kernpunkte.
Die dritte Säule vertritt die Sicherstellung der Arzneimittelversorgung. Insbesondere wird das bereits seit Jahren vorhandene Problem der Lieferengpässe thematisiert. „Diese werden auch nach der Pandemie nicht von alleine verschwinden“, schlussfolgert Wirthumer-Hoche. „Hier gilt es, auf EU-Ebene entsprechende Maßnahmen wie etwa Transparenz über Lagerbestände und Bevorratung zu fordern und gegebenenfalls gewisse Bestimmungen gesetzlich zu verankern. Denn Maßnahmen, die nur rein national gesetzt werden, helfen zwar über gewisse Dinge hinweg, führen jedoch nicht zu einer nachhaltigen Lösung.“
Bewusstseinsbildung bei der europäischen Bevölkerung ist ein Schlüsselfaktor. Ein Arzneimittel muss wieder etwas wert sein.
Christa Wirthumer-Hoche
Desweiteren wird daran gearbeitet, die Klassifizierung eines Arzneimittels als kritisch oder nicht-kritisch in Bezug auf die Verfügbarkeit festzulegen. Wirthumer-Hoche: „Folgende essenzielle Überlegungen sind in die Klassifizierung mit einzubeziehen: Sind Alternativprodukte vorhanden? Sind Generika am Markt? Welche Patientengruppe ist betroffen?“ Zudem gilt es, die Produktion in Europa zu halten und wieder zu intensivieren, auch um Lieferketten robuster zu gestalten. „Ein Vorschlag, den ich immer wieder versuche, voranzutreiben, wäre die Entwicklung eines Siegels für Arzneimittel, die in Europa hergestellt werden. Damit Hand in Hand die Schaffung von Arbeitsplätzen, Qualität aus der EU, stabilere Lieferketten“, so Wirthumer-Hoche. Die Stärkung des europäischen Wirtschaftsstandortes sollte aber auch die Möglichkeit einer potenziellen Erhöhung der Arzneimittelpreise mit sich bringen. „Bewusstseinsbildung bei der europäischen Bevölkerung ist hier ein Schlüsselfaktor.“
Die vierte Säule der Pharmastrategie geht mit dem Wert eines Arzneimittels Hand in Hand: Sie steht für die Entwicklung von Arzneimitteln zur tatsächlichen Deckung des therapeutischen Bedarfs und für die Sicherstellung des Zugangs zu erschwinglichen Medikamenten seitens verschiedener Patientengruppen. An dieser Stelle knüpft speziell die Förderung der Entwicklung von Arzneimitteln für seltene Erkrankungen und für Kinder an. Denn hier haben sich generelle Lücken ganz deutlich herauskristallisiert.
Orphan Drugs — einheitliche Anreize setzen
Mit der Verabschiedung der Orphan Drug Regulation im Jahr 2000 wurden Anreize für deren Erforschung, Entwicklung und Inverkehrbringen geschaffen: Protokollunterstützung, Gebührenbefreiung für die Zulassungsverfahren und zehnjährige Marktexklusivität für die zugelassene Indikation. „Es gab in den letzten Jahren 1773 Ausweisungen des Status ‚Arzneimittel für seltene Leiden‘. Allerdings wurden lediglich 196 davon auch tatsächlich zugelassen. Nach wie vor gibt es für 95 Prozent der seltenen Krankheiten keine geeigneten Arzneimittel — eine klare Herausforderung für die Forschung und in der Versorgung“, erläutert Wirthumer-Hoche.
In den Arbeitsgruppen der Europäischen Kommission wird die Frage gestellt, ob „Einheitsanreize“ ein geeignetes Instrument zur Anregung der Entwicklung von Arzneimitteln in Bereichen mit ungedecktem „medical need“ sind. Die Überlegungen stützen sich vor allem auf die unterschiedlichen Gegebenheiten der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten: In einigen davon erfolgt der Marktzugang nach der Zulassung verzögert oder gar nicht. „Daher hat die Europäische Kommission bereits vor zwei Jahren damit begonnen, eine ‚Market Access Strategy‘ zu erarbeiten. Im Zuge dieser sollen die Firmen künftig bereits zu Beginn des Zulassungsverfahrens bekanntgeben, wann und in welchem Land sie planen, das jeweilige Arzneimittel für seltene Leiden auf den Markt zu bringen“, so Wirthumer-Hoche. Denn aktuell gebe es in der Orphan Drug Regulation keine Verbindung oder Verpflichtung zwischen der Bereitstellung von Anreizen sowie Benefits und dem Inverkehrbringen. Wirthumer-Hoche plädiert im zentralen Verfahren außerdem für eine Vermarktungsverpflichtung in mehr als nur einem EU-Land. „Es bedarf einer klaren Verbindung zwischen Benefits für die Herstellerfirma eines Arzneimittels für seltene Leiden und der Vermarktungsstrategie“, unterstreicht sie. Österreich liege hier relativ weit vorne: Neue innovative Arzneimittel werden aufgrund attraktiver Preise relativ zügig vermarktet. Auch soll es auf dem Gebiet der Arzneimittel für seltene Krankheiten mehr Wettbewerb und Generika bzw. Biosimilars geben. Dies wirft auch Fragen zur langfristigen budgetären Tragfähigkeit der Gesundheitssysteme auf, die sich wiederum auf Verfügbarkeit und Zugänglichkeit der Gesundheitsversorgung in bestimmten Mitgliedstaaten auswirkt. „Und das funktioniert vorrangig über eine Bewusstseinsbildung der Bevölkerung. Ein Arzneimittel muss wieder etwas wert sein. Schließlich wird es entwickelt, produziert und kontinuierlich auf Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit überprüft“, so Wirthumer-Hoche. Die Preisschere zwischen innovativen Produkten und Generika darf nicht weiter auseinander gehen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Nutzung wissenschaftlich-technologischer Entwicklungen. Ansätze der personalisierten Medizin und die Verwendung von Biomarkern bergen ein großes Potenzial für die optimale Anpassung von Behandlungen an Krankheiten. „Was nicht passieren darf, ist die künstliche Unterteilung mittels Biomarkern von häufigen Krankheiten — wie bestimmten Formen häufiger Krebserkrankungen — in zahlreiche Untergruppen und somit seltene Erkrankungen, deren Arzneimittel dann einen hohen Preis erzielen wollen“, betont Wirthumer-Hoche.
Der derzeitige Schwellwert für die Einstufung als seltene Erkrankung liegt bei nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen in der EU. Im Zusammenhang mit Indikationserweiterungen spricht sich die Vorsitzende des EMA-Management Boards allenfalls für erneute Prüfung des Inzidenzwertes aus. Liegt dieser zu hoch, gilt es, dem Arzneimittel den Status als Orphan Medicinal Product und somit auch die Marktexklusivität zu entziehen. Diese bleibt allenfalls der wichtigste Anreiz, könnte künftig allerdings variabler und flexibler gestaltet sein. Die Dauer würde an verschiedene Kriterien gebunden, unter denen Unternehmen eine Verlängerung der Marktexklusivität bis zu maximal zehn Jahren beantragen können.
Für neue Arzneimittel sind pädiatrisch-klinische Studien bereits verpflichtend. Die Entwicklungen neuer Kinderarzneimittel gehen aktuell allerdings nicht ausreichend auf die größten ungedeckten Bedürfnisse von Kindern ein. Daher hat man versucht, auch auf diesem Gebiet Anreize zu setzen. Darunter etwa die sechsmonatige Verlängerung des Ergänzenden Schutzzertifikats (Supplementary Protection Certificate — SPC) nach Abschluss der pädiatrisch-klinischen Studien. „Es hat sich einiges getan, aber es ist noch viel Luft nach oben“, resümiert Wirthumer-Hoche.
Bewegte Zeiten
Im Hinblick auf ein nachhaltiges Vorsorge- und Reaktionsnetzwerk haben BASG/AGES Medizinmarktaufsicht, EMA und Europäische Kommission innerhalb kürzester Zeit ihre Lehren gezogen und effiziente Systeme etabliert — gemeinsam zukunftsfest und krisensicher. „Eine sehr herausfordernde Zeit“, blickt Christa Wirthumer-Hoche, deren Führungsrolle im europäischen Zusammenspiel deutlich hervorsticht, zurück. Sie gilt als erste weibliche Vorsitzende des Management Boards in der Geschichte der EMA. Es waren und sind bewegte Zeiten innerhalb der EU — nicht nur aufgrund von Brexit und Corona. „Als ich im Management Board begonnen habe, bestand die Mitgliedschaft zu einem hohen Prozentsatz aus Männern. Das ist nun nicht mehr der Fall — europaweit ist bereits nahezu die Hälfte der Direktionen der nationalen Arzneimittelagenturen weiblich besetzt, auch die Direktorin der EMA ist eine Frau“, merkt sie an. Im Zeitraffer habe sich also auch in diesem Zusammenhang vieles getan. Man müsse allerdings akzeptieren, dass nicht alle Frauen eine Führungsposition anstreben. „Wir Frauen sind es gewohnt, mindestens zwei Jobs parallel zu machen, den Job und die Familie. Wir bringen sehr viel Engagement mit, das — wenn man es möchte — heute in vielen Bereichen anerkannt wird.“
DI Dr. Christa Wirthumer-Hoche studierte an der Technischen Universität Wien Biochemie und promovierte am Institut für Medizinische Physiologie. Seit 1983 ist sie in unterschiedlichen Funktionen im pharmazeutisch regulatorischen Umfeld tätig. Seit 2013 leitet sie die AGES Medizinmarktaufsicht; auf EU-Ebene ist sie seit 2016 — mittlerweile in zweiter Amtsperiode — Vorsitzende des Management Boards der EMA. Privat widmet sie sich, wenn es die Zeit erlaubt, gerne dem Reisen, Fotografieren, Rad fahren, Wandern und ihren Enkelkindern.
© Ludwig Schedl (3)