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Von der Reparaturmedizin zur Präventivmedizin

© PETER PROVAZNIK (7), PERI ONLINEEXPERTS, SCHUSTER, FOTOSTUDIO STANGER, WERNER HARRER, FELICITAS MATER

Von der Reparaturmedizin zur Präventivmedizin

© PETER PROVAZNIK (7), PERI ONLINEEXPERTS, SCHUSTER, FOTOSTUDIO STANGER, WERNER HARRER, FELICITAS MATER

Prävention müsse leistbar sein und in alle Lebensbereiche implementiert werden – nur so lasse sich nachhaltig Geld im System sparen, konstantierten die Expertinnen und Experten beim PRAEVENIRE Gipfelgespräch. | von Rainald Edel, MBA

Jede Investition in Prävention spart dem System erwiesenermaßen ein Vielfaches an späteren Kosten und Ressourcen — und den Patientinnen und Patienten oftmals viel Leid. „Nur mit effizienter Prävention können Krankheiten verhindert werden“, brachte Mag. Christina Nageler, Geschäftsführerin der IGEPHA — The Austrian Self Care Association, gleich zu Beginn des Praevenire-Gipfelgesprächs über Prävention das Thema auf den Punkt. Die Expertinnen und Experten, die am Gipfelgespräch teilgenommen haben, sind sich einig, dass eine stärkere Fokussierung auf die Chancen und Potenziale durch eine Hinwendung zur Präventivmedizin für die zukünftige Entwicklung des Gesundheitssystems essenziell ist. Durch eine generelle Steigerung der Gesundheitskompetenz sollen mehr Eigenverantwortung und eine bessere Self Care der Bevölkerung erreicht werden. Die Expertinnen und Experten versprechen sich davon auch eine größere Bereitschaft, die Präventionsangebote des Gesundheitssystems zu nützen. Wo Prävention überall anzusetzen hat, betonte Dr. Peter Stippl, Präsident des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie (ÖBVP): „Eine Bewusstseinsschulung ist dort besonders wichtig und sinnvoll, wo große Gruppen vorhanden sind, also im Kindergarten, in der Schule, an den Hochschulen und am Arbeitsplatz. Und beim Thema Prävention sollte immer auch ein Blick auf die psychische Gesundheit gerichtet sein.“

Das österreichische Gesundheitssystem ist allerdings traditionell stark auf Reparaturmedizin ausgelegt und Präventionsmaßnahmen sind in den meisten Fällen von der Bevölkerung individuell zu bezahlen. Wie essenziell der finanzielle Aspekt ist, hob Angelika Widhalm, Vorsitzende des Bundesverbands Selbsthilfe Österreich, hervor: „Wenn man gute Präventionsmaßnahmen selbst setzen muss — die Palette reicht von der Physiotherapie bis zu Nahrungsergänzungsmitteln —, werden diese oft nicht von den Krankenkassen übernommen. Prävention muss für alle leistbar und in jeder Lebensphase angeboten werden.“ Dabei sei laut Widhalm nicht zuletzt die WKO in die Pflicht zu nehmen, wenn es darum geht, Präventionsmaßnahmen in Betrieben zu fördern.

Gleichzeitig müssen bestehende Angebote in der Öffentlichkeit besser bekannt gemacht werden, damit sie angenommen werden. Um dies zu erreichen, können sich die Expertinnen und Experten Anreizsysteme vorstellen. „Sinnvoll wären hierbei Incentives und Opt-in-/Opt-out-Modelle, bei denen man aktiv werden muss, um sich wieder auszuklinken. Das erhöht die bewusste Eigenverantwortlichkeit“, betont Dr. Christopher Schludermann, Medical Advisor bei Merck.

Priorität der Impfvorsorge

Auf die Bedeutung eines niederschwelligen Zugangs zur Prävention wies Christopher Schludermann hin: „Das betrifft alle Bereiche, auch wenn die Impfvorsorge aus meiner Sicht prioritär zu sehen ist. Ein Impfregister wäre von großer Wichtigkeit. Das sorgt für Transparenz und ermöglicht auch Laien, auf einer gewissen Ebene auf Gesundheitsdaten zurückgreifen zu können.“ Dass vorhandene Impfangebote wie etwa bei der Grippe nur wenig in Anspruch genommen werden, sieht Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Hannes Stockinger, Immunologe an der Medizinischen Universität Wien, als Anlass, mehr Aufklärung einzufordern: „Wir müssen uns auf die einzelnen Individuen fokussieren und sie so gut es geht schulen und darüber informieren, welche Möglichkeiten der Vorsorge sie haben.“

Kindern gesunden Lebensstil vermitteln

„Die bewährten Maßnahmen gilt es einer Kosten-Nutzen-Analyse zu unterziehen, zu evaluieren und das Beste daraus umzusetzen“, so Ass.-Prof. Dr. Beate Jahn vom Department für Public Health, Versorgungsforschung und Health Technology Assessment (HTA) der Tiroler Privatuniversität UMIT. Das Stichwort „sämtliche Lebensphasen“ griff auch Peter Stippl auf: „Es braucht für Menschen jeden Alters formale Leader, wie etwa Kindergärtnerinnen und Kindergärtner, Lehrerinnen und Lehrer oder in der Arbeitswelt Bereichsleiterinnen und Bereichsleiter sowie Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer, die die Bedeutung von Gesundheit und Prävention vermitteln. Dazu kommen die informellen Leader in Form von bekannten Persönlichkeiten, die mit ihren Aufrufen Vorbildwirkung haben.“ Eine besondere Rolle spielen laut NÖ Landesschulärztin Dr. Gabriele Freynhofer früh gesetzte Maßnahmen: „Prävention bereits im Kindesalter durch gesunden Lebensstil zu vermitteln, könnte ein Schlüssel für mehr gesunde Lebensjahre mit besserer Lebensqualität sein.“ Ein Lebensstil mit Bewusstsein für gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung müsse im familiären Alltag gelebt und den Kindern bereits im Kindergarten und in der Schule verstärkt vermittelt werden. Ebenso gilt es, Unternehmen und Führungskräfte für das Thema Prävention zu sensibilisieren und zu unterstützen. Denn im Arbeitsumfeld können die meisten Menschen erreicht werden.

Warnung vor unseriösen Präventionstipps

„Ob bei der Primärprävention am Arbeitsplatz, bei der Wiedereingliederung von Menschen mit Erkrankungen oder beim Thema Durchimpfungsraten — überall können neue Technologien integriert werden und eine gewichtige Rolle spielen. Die Palette reicht von Gesundheits-Apps bis hin zu den Möglichkeiten der Telearbeit“, schilderte Hon.-Prof. (FH) Dr. Bernhard Rupp, Abteilungsleiter für Gesundheitswesen der Arbeiterkammer Niederösterreich. Die Entwicklung der Digitalisierung sei ohnehin unaufhaltsam, auch wenn sich ein differenzierter Blick darauf lohnt. „Speziell ältere Menschen tun sich mit digitalen Medien nicht immer leicht. Da ist es besonders wichtig, einfache Dinge anzubieten, wie etwa Pulsuhren, die ohne App zu bedienen sind“, sagte Sportwissenschafterin, Trainingstherapeutin und Sportpädagogin Mag. Dr. Barbara Eder, die der Auffassung ist, dass die Bevölkerung auf eine einfache Weise erreicht werden müsse: „Primärpräventiv sollten Strukturen sehr leicht umzusetzen sein. In Wahrheit geht es um ein Angebot, das in unmittelbarer Umgebung der Menschen stattfinden soll.“

Oft betrifft dies auch Themen wie die Vermeidung von Verletzungen oder der Burn-out-Prävention. Kritisch sehen die Expertinnen und Experten diverse unseriöse Präventionstipps, die im Internet und in Social Media verbreitet werden. „So wunderbar es sein mag, was digital alles möglich ist, so sehr muss man sich im Klaren sein, dass im Netz auch jede Menge Unsinn kursiert. Umso wichtiger ist eine Aufklärung, wie man seriös mit der Digitalisierung umgeht“, warnt Hannes Stockinger. Deshalb sind einerseits die qualitativ hochwertige Berichterstattung traditioneller Medien sowie Online-Quellen mit transparenten, vertrauenswürdigen Anbietern als Informationsquelle heranzuziehen. Andererseits sollten diese genutzt werden, um den Menschen Prävention mit bewusstseinsbildenden Aufklärungskampagnen nahezubringen – in zielgruppengerechter Sprache, mit Alltagsbezug und anhand von Testimonials.

Als notwendig erachten die Expertinnen und Experten, dass nicht nur Maßnahmen angeboten, sondern diese auch evaluiert und dem tatsächlichen Bedarf angepasst werden, um Präventivmaßnahmen effektiver setzen zu können. „Erhobene Daten müssen nutzbar gemacht werden, um festzustellen, wo mit Präventionsmaßnahmen anzusetzen ist“, fordert Beate Jahn. Das Nutzbarmachen brauche finanzielle Unterstützung und, so Dipl. KH-BW Ronald Söllner vom Dachverband der NÖ Selbsthilfegruppen, „transparente Methoden, um der Bevölkerung darzulegen, was mit ihren Daten genau passiert“. Auch das ist ein Grund, warum er eine Aufwertung der Selbsthilfe zum gleichberechtigten Systempartner als Gebot der Stunde sieht, das es rasch umzusetzen gilt.

„Apotheken bieten einen äußerst niederschwelligen Zugang zum Gesundheitssystem. Zudem stehen bestens ausgebildete Akademikerinnen und Akademiker neben ihrer Haupttätigkeit der Arzneimittelversorgung für Fragen im Gesundheitsbereich zur Verfügung. Durch den hochfrequenten und niederschwelligen Zugang ergeben sich gute Möglichkeiten, Präventionsmaßnahmen, wie z. B. das Impfen, in der Apotheke zu setzen.“ Mag. pharm. Thomas Veitschegger | Vizepräsident des Österreichischen Apothekerverbandes

„Für die betriebliche Gesundheitsförderung und Prävention ist die Mitwirkungsbereitschaft der Betriebe wesentlich. Es muss auch für Dienstgeberinnen und Dienstgeber ein Ziel sein, möglichst gesunde Arbeitsbedingungen zu schaffen. Ein Ansatz sollte ein Krankenstandsmonitoring sein. Das ist eine flächendeckende Analyse der Krankenstände in den Betrieben. Betriebe mit auffälligen Krankenstandszahlen (überdurchschnittlich in der jeweiligen Branche) sollten verpflichtend eine Präventionsberatung von der AUVA erhalten.“ Mag. Wolfgang Panhölzl | Leiter der Abteilung Sozialpolitik der AK Wien

„Prävention zählt zu den vier Kernaufgaben der AUVA. Insbesondere im Rahmen dieser gilt es, ihr Potenzial zum Wohle aller offensiv zu entwickeln, zu vernetzen und stärker im Sinne der modernen Arbeitswelt zu betonen.“ Mag. Jan Pazourek, stv. Generaldirektor der AUVA

„Präventions- und Aufklärungsmaßnahmen sind essenzielle Bestandteile einer vorausschauenden Gesundheitspolitik. Damit diese angenommen werden, bedarf es finanzieller und sachlicher Anreizsysteme für die Teilnahme an gesundheitsfördernden Programmen. Durch sinnvolle Investitionen in Prävention lassen sich nicht nur der gesundheitliche Standard und die Lebenserwartung anheben, sondern auch Gesundheitskosten erheblich reduzieren.“ ao. Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres | Präsident Ärztekammer Wien

„Ich plädiere dafür, dass vom frühesten Kindesalter an die erste Sensibilisierung für Gesundheit und Prävention erfolgen sollte. Ich halte es für eine große Chance und Aufgabe unserer Generation, bei den Jüngsten, im Kindergarten und in der Volksschule, anzusetzen, um gesundheitsrelevante Themen anzusprechen. Dazu braucht es konkrete Programme, wie etwa die Gesundheitswoche, mit denen in der Schule auf spielerische und motivierende Art sensibilisiert werden soll.“ Prof. Dr. Robin Rumler | Pfizer Corporation Austria GmbH

„Self Care als alltäglicher Beitrag zur Krankheitsprophylaxe sollte gefördert werden, damit die Bevölkerung mehr Eigenverantwortung in der Prävention übernehmen kann.“ Mag. Aleks Jovanovic | Vizepräsident IGEPHA

Themenkreis Prävention

Für das Weißbuch „Zukunft der Gesundheitsversorgung“ wirken u. a. mit:
  • Mag. pharm. Monika Aichberger

  • Dr. Gerald Bachinger

  • Dr. Alexander Biach

  • Mag. Dr. Barbara Eder

  • Dr. Gabriele Freynhofer

  • Mag. pharm. Heinz Haberfeld

  • Dr. Eva Höltl

  • Ass.-Prof. Dr. Beate Jahn

  • Mag. Aleks Jovanovic

  • Univ.-Prof. Dr. Martin Kocher

  • Mag. Caroline Krammer

  • Mag. Monika Maier

  • Mag. pharm. Dr. Ulrike Mursch-Edlmayr

  • Mag. Christina Nageler

  • Mag. Wolfgang Panhölzl

  • Mag. Jan Pazourek

  • Dr. Sigrid Pilz

  • Dr. Erwin Rebhandl

  • Univ.-Prof. Dr. Alexander Rosenkranz

  • Prof. Dr. Robin Rumler

  • Hon.-Prof. (FH) Dr. Bernhard Rupp

  • Dr. Christopher Schludermann

  • Dipl. KH-BW Ronald Söllner

  • Dr. Peter Stippl

  • Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Hannes Stockinger

  • Ao. Univ.-Prof. Dr. Thomas Szekeres, PhD

  • Dr. Daniel Tiefengraber, DTM&H

  • Mag. pharm. Thomas W. Veitschegger

  • Angelika Widhalm

  • Univ.-Prof. Dr. Ursula Wiedermann-Schmidt

(Stand 25.3.2020)

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