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Viele Probleme bei Kinder- und Jugendgesundheit

Gruppenbild
© KRISZTIAN JUHASZ, GEORGES SCHNEIDER

Viele Probleme bei Kinder- und Jugendgesundheit

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Psychische Belastungen sind durch die aktuell multiplen Krisen stark gestiegen. Trotz eines Aufholprozesses im Bereich der Rehabilitation für Kinder und Jugendliche existiert noch immer „deutlich Luft nach oben“. Das erklärten Gesundheitsexpertinnen und -experten anlässlich der Vorstellung des PRAEVENIRE Jahrbuchs 2022/2023. Gefordert wurden unter anderem ein kinder- und Jugendgesundheitsstaatssekretariat sowie eine Kinder- und Jugendgesundheitsmilliarde.

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Wolfgang Wagner

Gesundheitsjournalist

Kinder und Jugendliche haben in den vergangenen Jahren besondere Belastungen zu tragen gehabt. Manchmal scheint es, als würde das einfach nicht enden. Univ.-Prof. Dr. Paul Plener, Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie von MedUni Wien und AKH: „Im Rahmen der vielfältigen Krisen, die wir erlebt haben, von der Coronapandemie, der Teuerung, der Klimakrise, vor der wir stehen, bis zu dem Krieg in unmittelbarer Nachbarschaft sehen wir eine Zunahme der psychischen Belastungen von Kindern und Jugendlichen.“ Die Psyche leidet, die Auswirkungen sind vielfältig. Der Experte, auch Vizepräsident der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie: „Dies zeigt sich vor allem im Bereich von Angststörungen, Depressionen, Essstörungen, aber auch in einer deutlichen Zunahme von suizidalen Gedanken und Suizidversuchen.“

Die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (ÖGKJP) warnt schon seit Langem vor den Effekten der multiplen Krisen auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Während der Personalmangel in der Kinder- und Jugendpsychiatrie österreichweit seit Jahren bekannt ist und sich nichts Wesentliches geändert hat, hat sich laut der Fachgesellschaft der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Belastungen im Laufe der COVID-19-Pandemie auf etwa jeden dritten Jugendlichen erhöht.

Schon vor Ausbruch der Pandemie fehlten in Österreich 50 Prozent der benötigen Kranken- hausbetten in diesem Bereich. Im Februar 2021 wiesen dann mehr als die Hälfte, nämlich 55 Prozent der Jugendlichen, depressive Symptome auf, 47 Prozent Angstsymptome, 22,8 Prozent litten an Schlaflosigkeit. Bei knapp 60 Prozent zeigte sich ein gestörtes Essverhalten. Diese Zahlen wurden im Jahr 2022 im Rahmen einer ÖGKJP-Veranstaltung genannt. Pro Jahr fehlen in Österreich 60.000 bis 80.000 Therapieplätze für Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Entwicklungsstörungen und Erkrankungen insgesamt, haben Erhebungen gezeigt (Wartezeiten bis zu ein Jahr und mehr).

Dreimal mehr Jugendliche nach Suizidversuchen betreut

Plener nannte dazu Erfahrungen der Wiener Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, die er leitet: „Wir haben am Wiener AKH im Vergleich zum Jahr vor der Pandemie im vergangenen Jahr dreimal so viele Jugendliche nach Suizidversuchen betreut. Dieser Trend ist weiter aufrecht. Das heißt, dass wir helfen müssen.“ Da seien Anstrengungen auf den verschiedensten Ebenen notwendig, wie der Kinder- und Jugendpsychiater betonte: „Es geht um eine umfassende Prävention sowohl in der Schule als auch in den Ausbildungsbetrieben.“ Man müsse unbedingt Lehrlingsausbildung und somit die Gruppe der Lehrlinge mit einbeziehen. Es gehe um umfassende Suizid- und Mobbing-Prävention.

Oft werden psychische Belastungen und Krisen einfach übersehen. „Es braucht einen Link zwischen Personen in der Schule, die da sind, wenn es Kindern und Jugendlichen schlecht geht, die aber auch weitervermitteln können zu einer nachfolgenden Therapie.“ Solche Verbindungsstellen könnten Schulärztinnen und -ärzte sein, Schulpsychologinnen und -psychologen, aber auch Sozialarbeiterinnen und -arbeiter oder die aus Pilotprojekten bekannten „School Nurses“. Zusätzlich sei eine Ausweitung der ambulanten Therapieangebote auf Kassenkosten dringend erforderlich. „Es geht aber auch um einen Ausbau der stationären Behandlungsplätze. Hier brauchen wir eine Verdoppelung der Betten, um auf einen europäischen Standard zu kommen“, forderte Plener. Neue Betreuungsformen wie „Home Treatment“, bei dem multiprofessionelle Therapieangebote direkt in die Familien gebracht würden, müssten endlich umgesetzt werden. „Die Projekte sind gelaufen. Wir wissen, wie es funktioniert. Wir müssen es umsetzen. Das wird auch Geld kosten“, erklärte der Kinder- und Jugendpsychiater. Hier investiertes Geld schaffe längerfristig einen hohen „Return on Investment“ und könne vor allem Leid der Betroffenen mildern bzw. verhindern.

Eltern von Kindern mit stationärer Rehabilitation benötigen einen Freistellungsanspruch mit Entgeltfortzahlung.

Deutliche Fortschritte und anhaltende Defizite

Markus Wieser, Präsident der Arbeiterkammer Niederösterreich und Obmann des Fördervereins Kinder- und Jugendrehabilitation, verwies auf Statements zu den wichtigsten Zukunftsfragen: Versorgungssicherheit, Daseinsvorsorge und Absicherung von Lieferketten – hier auch im Bereich des Gesundheitswesens. Ganz wesentlich sei die Zukunft der Gesundheits- und Pflegeversorgung.

Schutz, Erhalt und Absicherung der Gesundheit wären gerade im Bereich der Kinder und Jugendlichen von überragender Bedeutung. „Im Bedarfsfall gehören dazu auch eine altersgerechte Rehabilitation und Therapien für berufstätige Eltern von chronisch kranken Kindern, die eine stationäre Rehabilitation unterstützen. Für diese Zeit fordern wir einen Freistellungsanspruch mit Fortzahlung des Entgelts nach dem Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz. Die Versorgung von Kindern und Jugendlichen darf nicht von finanziellen, arbeitsrechtlichen oder bürokratischen Bedingungen abhängen“, sagte Wieser.

Nach Jahren der Bemühungen sei es in Österreich gelungen, entsprechende stationäre Rehabilitationsangebote für Kinder und Jugendliche nach Erkrankungen oder nach Abteilung zu gewährleisten, in nächster Zukunft werde das sechste und vorerst letzte Rehabilitationszentrum für diese Altersgruppen in Tirol eröffnet. „Kinder und Jugendliche sind aber keine kleinen Erwachsenen. Sie verdienen ein Gesundheitssystem, das ihre besonderen Bedürfnisse nicht nur kennt, sondern auch berücksichtigt“, betonte der Präsident der AK NÖ.

Hilfe für Eltern und Betreuende

Hier muss es laut Wieser noch zu einer deutlichen Verbesserung der Rahmenbedingungen für Eltern und Betreuende von rehabedürftigen Kindern und Jugendlichen kommen: „Ein wesentlicher Punkt sind die Mitaufnahme und Therapieangebote für Familienangehörige.“ Ein Kind oder ein Jugendlicher nach schwerer akuter Erkrankung oder auch mit einer chronischen Erkrankung und Rehabilitationsbedarf stelle für das gesamte Familiensystem oft eine gewaltige Belastung dar. Hier müssten mehr Hilfen angeboten werden.

Wieser: „Es muss über den politischen Tellerrand geblickt werden. Den sorgengeplagten Eltern zu sagen, ‚Sie haben ja keine Diagnose, Sie haben nur Sorgen und Ängste für die Familie oder das erkrankte Kind. Deshalb erhalten Sie keine Leistungen von der Sozialversicherung‘, das ist zynisch.“

Hier sollte die Idee sogenannter „Sekundärpatientinnen und -patienten“ umgesetzt werden, um auch für die Angehörigen und Betreuenden eine Versorgung sicherzustellen. In der Kinder- und Jugend-Onkologie funktioniere das bereits teilweise, dies sollte aber auch auf zusätzliche Indikationen ausgedehnt werden. Begleitung und Freistellung müssten viel breiter möglich werden. „Pflegeurlaub reicht da nicht aus“, sagte Wieser.

Im Endeffekt entscheide sich bei Kindern und Jugendlichen, wie die Gesellschaft in der Zukunft aussehen werde. In Zeiten vielfälter Krisen, im Umfeld der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, müssten jetzt Bund und Sozialversicherung schnell Nachbesserungen im Bereich der Kinder- und Jugendgesundheit vornehmen. Schließlich gebe es zum Beispiel bereits eine wachsende Unterversorgung mit Fachärztinnen und Fachärzten im Bereich der Kinder- und Jugendgesundheit mit Kassenvertrag. „Das lässt die Alarmglocken läuten“, sagte der NÖ AK-Präsident.

Wir haben dreimal so viele Jugendliche nach Suizidversuchen zu betreuen als vor der Coronapandemie.

Spezialisiertes Staatssekretariat und Gesundheitsmilliarde

Eine prinzipielle Forderung an die Bundespolitik, wie Wieser erklärte: „Ein Staatssekretariat für Kinder- und Jugendgesundheit im Gesundheitsministerium mit Querschnittskompetenz.“ Dieses könne ressortübergreifend Initiativen setzen.

Eine zweite Forderung: „Eine Kinder- und Jugendgesundheitsmilliarde, mit der spezifische Probleme in diesem Bereich gemildert oder beseitigt werden können.“ Jeder Cent, der auf diesem Gebiet sinnvoll ausgegeben werde, bringe später ein Vielfaches an Gewinn für jede und jeden Einzelnen und die Gesellschaft zurück.

„Diese Kinder- und Jugendgesundheitsmilliarde ist aufgrund der sich vergrößernden Kinderarmutsgefährdung mehr als gerechtfertigt“, betonte Wieser. Etwa 18 Prozent der bis zu 17-Jährigen in Österreich seien bereits chronisch krank, litten zum Beispiel an Rheuma, Typ-1-Diabetes, anderen Stoffwechselleiden oder psychischen Erkrankungen. Hier müsse die Versorgung deutlich verbessert werden.

Die medizinischen Fortschritte seien enorm. Auch bei Einrechnung schwerer Krankheiten erlebten mehr als 90 Prozent der chronisch kranken Kinder das Erwachsenenalter. „Hier muss die Transitionsmedizin verstärkt werden. Nur weil jemand 18 Jahre alt wird, darf er nicht aus der Versorgung fallen. Viele Betroffenen benötigen ein Leben lang Betreuung und Begleitung“, sagte Wieser. „Wir haben für alle Generationen, von Jung bis Alt, die Verantwortung.“ Schließlich müsse es auch zu verstärkten Bemühungen um Gesundheitskompetenz der Menschen kommen. Hier müsse viel mehr auf die individuellen Bedürfnisse Rücksicht genommen werden. Der Gesundheitspädagogik sei wesentlich mehr Raum zu geben.

„Wie kann man Kindern und Jugendlichen mit oder ohne chronische Erkrankung mit Unterstützung dazu verhelfen, dass sie immer mehr eigenverantwortlich gute Entscheidungen für die eigene Gesundheit treffen? Wir wissen, dass das Gesundheitsverhalten im Kindes- und Jugendalter entscheidend für das Gesundheitsverhalten als Erwachsener ist.“

Hier gebe es Nachholbedarf, was quasi eine „Alphabetisierung“ bezüglich gesundheitsrelevanter Inhalte und Informationsangebote betreffe. Sprachliche und intellektuelle Barrieren müssten überwunden werden. Es sei zwar jedem möglich, ein Fertigmöbel-Regal nach einer Bauanleitung ohne besondere Sprachkenntnisse unter Zuhilfenahme der Anleitung aufzubauen, für das Verstehen der Gesundheits-Website des öffentlichen Gesundheitsportals Österreichs (www.gesundheit.gv.at) sei aber Deutsch auf Maturaniveau notwendig. „Was für eine schöne Welt. Es gibt noch viel zu tun“, zitierte Wieser den Begründer eines bekannten schwedischen Möbelhauses (siehe Bedienungsanleitung/ Regal). „Die Politik ist gefordert“, fügte der Präsident der NÖ Arbeiterkammer hinzu.

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