Die Analyse von Gesundheitsdaten birgt viel Potenzial für neue Entwicklungen, darunter auch digitale Gesundheitsanwendungen (DiGas). Wie dieses Potenzial für Österreich nutzbar gemacht werden kann, wurde von wichtigen Stakeholdern aus Wirtschaft, Gesundheitswesen und Industrie in Wien diskutiert. | von Mag. Marie-Thérèse Fleischer, BSc
Am 3. November 2022 fand in der Wirtschaftskammer Wien eine SV-Lounge zum Thema „Datennutzung und DiGAs in Österreich – Die Zukunft der modernen Gesundheitsversorgung“ statt. Ein hochkarätig besetztes Podium diskutierte nach Impulsvorträgen darüber, welche Chancen und Potenziale, aber auch welche Hürden und Probleme es in Österreich diesbezüglich gibt. „Viele Institutionen haben Daten, aber wir können nur dann davon profitieren, wenn wir die Daten gemeinsam nutzen und auf eine Interoperabilität dieser Daten
achten“, appellierte LAbg. Dr. Kasia Greco, MBA, Vizepräsidentin der WK Wien, in ihren
einführenden Worten zur Veranstaltung an die Stakeholder.
Gute Voraussetzungen, wenig Mut
„Der Rohstoff Daten soll für nicht mehr und nicht weniger als das Wohl und die Gesundheit der Österreicherinnen und Österreicher genutzt werden“, unterstrich Kammerdirektor-Stv. der WK Wien, Dr. Alexander Biach. Immerhin habe Österreich mit e-card und ELGA beste Voraussetzungen und eine gute Grundstruktur geschaffen. Diese werden auch umfassend genutzt: 175 Mio. Verordnungen wurden bereits mittels e-Medikation getätigt, der e-Impfpass wurde bereits 166 Mio. Mal abgerufen und jeden Monat wird 365.000 Mal auf e-Befunde zugegriffen. „Wenn man diese Millionen an Informationen über Medikation, Körpergröße, Alter, Gewicht und ärztliche Befunde pseudonymisieren würde, könnte man menschliches Leid tatsächlich lindern“, meinte Biach. Die Analyse der Primärdaten könnte den Weg zur Diagnose beschleunigen und gleichzeitig Kosten einsparen. „Provokant gesagt lassen wir sehr viel Geld dadurch liegen, dass wir uns ein bisschen zu wenig trauen“, so Biach.
Die direkte Bruttowertschöpfung betrüge nämlich bei optimaler Nutzung der Daten 132
Mio. Euro pro Jahr, wie Dr. Rainer Thiel von der Empirica Gesellschaft für Kommunikations- und Technologieforschung in Bonn in einer rezenten Studie herausfand. „Je mehr man Daten nutzt, desto mehr steigen die Wertschöpfung und das Wachstum im Gesundheitswesen“, erklärte der Experte. Die Einsparpotenziale in der Versorgung beliefen sich auf bis zu 1,4 Mrd. Euro bis zum Jahr 2025. „Wenn man die e-Medikationsdaten mit anderen Daten verknüpfen könnte, könnte man sehr viel in Bezug auf Behandlungen und den Nutzen der Medikamente erforschen, auch spezifisch für verschiedene Zielgruppen“, pflichtete Dr. Michael Strassnig, stv. Geschäftsführer
des Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF), bei.
Relevante Gesetze und Institutionen
Strassnig erklärte einleitend zur Podiumsdiskussion zum Thema „Nutzung von Daten für das österreichische Gesundheitswesen“, welche Gesetze bzw. Institutionen eine Rolle spielen.
Einerseits gebe es das Bundesstatistikgesetz, andererseits das Forschungsorganisationsgesetz (FOG). „Letzteres schafft grundsätzliche Möglichkeiten, mit Registern zu arbeiten.
Allerdings braucht man immer noch die Freigabe eines konkreten Registers durch den
Wissenschaftsminister und etwaige weitere Ressortminister“, so Strassnig. Als wichtige
Institution nannte er das mit Juli 2022 operativ tätig gewordene Austrian Micro Data Center
(AMDC), das in einem zweistufigen Akkreditierungsverfahren Daten für wissenschaftliche Forschung zugänglich macht. „Wissenschaftliche Institutionen müssen sich bei uns akkreditieren lassen, mit einem konkreten Forschungsantrag“, erläuterte Julia Schuster, PhD, von Statistik Austria, in welcher das AMDC angesiedelt ist. Die Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeiter bekämen nur Zugriff auf jene Datensätze, die sie für ihr Projekt benötigten und könnten diese auch nicht herunterladen und abspeichern. Lediglich die Ergebnisse der Analysen könnten nach
Freigabe der Statistik Austria mitgenommen werden. Allerdings mangele es noch an eingespielten Daten, die nicht nur von der Statistik Austria zur Verfügung gestellt werden können, sondern auch von externen Dateneigentümern.
Daten schneller nutzbar machen
Was in der pharmazeutischen Industrie im Rahmen von Zulassungsstudien bereits gut funktioniere, lasse im Bereich der Forschung noch zu wünschen übrig. „Die Ärztinnen und
Ärzte erheben Daten, die vor Ort pseudonymisiert werden und für die Industrie komplett
anonym sind – die Industrie macht dann damit ihre Analysen. Datenschutzrechtlich ist da alles geklärt“, berichtete Priv.-Doz. Dr. Johannes Pleiner-Duxneuner, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Pharmazeutische Medizin und Medical Director bei Roche Austria. „Wir müssen über den Tellerrand hinausschauen“, pflichtete auch Univ.-Prof.
Dr. Tanja Stamm vom Center für Medical Statistics, Informatics and Intelligent Systems
der MedUni Wien bei. Sie wünschte sich aktive Mitgestaltung statt einer passiven Haltung, die dem Wirtschaftsstandort und der Forschung schade: „Es geht darum, innovative Algorithmen und Modelle zu entwickeln, neue Medikamente zu testen und damit auch Patientinnen und Patienten in den Genuss dieser Erkenntnisse und neuen Medikamente zu bringen.“ Der Schutz des Individuums sei laut Pleiner-Duxneuner absolut wichtig, aber: „Ich glaube, dass wir da manchmal ein bisschen über das Ziel hinausschießen.“
Das Hinausblicken über den Tellerrand brächte vor allem im rechtlichen Bereich Vorteile, so Thiel: „Bezüglich des Rechtsrahmens kann man von anderen Ländern lernen. Die Debatten, die wir führen, sind alle dieselben. Man müsste sich zusammensetzen und darüber sprechen, wie andere das in die Wege geleitet haben.“ Der Idealfall wäre, die Sekundärnutzung bei der Digitalisierung der Primärdaten gleich mit zu planen. Gleichzeitig müsse man auch das Vertrauen der Patientinnen und Patienten gewinnen, warum die Sekundärnutzung der Daten auch für sie ein Gewinn ist.
Digitale Gesundheitsanwendungen etablieren
KommR Mag. Alexander Hayn, MBA, Funktionär der WK und Mitglied des AUSTROMED-Vorstands, erläuterte, warum DiGAs aus Sicht der Patientinnen und Patienten so wichtig sind: „Wir haben die Tradition, unsere Gesundheitsverantwortung an Ärztinnen und Ärzte, Apothekerinnen und Apotheker auszulagern und halten uns mal mehr und mal weniger an deren Empfehlungen. Wichtig wäre es aber, dass wir uns selbst mehr um unsere Gesundheit kümmern und verantwortungsvoller damit auseinandersetzen.“ Apps könnten dabei helfen, neugierig zu machen und die Gesundheitskompetenz zu stärken. Damit DiGAs für alle, die sie brauchen, leistbar sind, brauche es aber auch ein Finanzierungsmodell.
„DiGAs sind nachweislich wirksam und kosteneffizient. Notwendig ist die Schaffung von
Voraussetzungen, die endlich eine Kostenübernahme von DiGAs und kassenärztlichen
Leistungen, die damit verbunden sind, durch die Sozialversicherungen ermöglichen“, meinte auch Assoz. Prof. Priv.-Doz. Dr. Lukas Pezawas, Leiter der Hauptambulanz sowie der Spezialambulanz für therapieresistente Depression, Univ.-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, AKH Wien.
Gemeinsame Ausgangsbasis nötig
„DiGAs sind und werden Teil der GH-Versorgung sein“, gab sich Mag. Bernhard Wurzer,
Generaldirektor der ÖGK, zuversichtlich. Allerdings: „Man kann nur über DiGAs diskutieren, wenn man selbst im Bereich der Digitalisierung auf festen Beinen steht. Das haben wir als ÖGK vor. Wir setzen gerade ein Digitalisierungsprogramm auf, mit der Zielsetzung, 2030 der modernste Krankenversicherungsträger Europas zu werden.“ Auch die Wiener Spitäler arbeiten laut Stadtrat Peter Hacker an ihrer E-Health-Strategie, um die Basis für weitere Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung zu schaffen. „Wir brauchen zunächst einmal eine gemeinsame Ausgangsbasis, um die IT-Landschaft in Interaktion zu bringen“, meinte Hacker.
Diese Basisarbeit müsse aber rasch vonstattengehen, ein zu sequenzielles Denken sei hinderlich für den Fortschritt, betonte Christine Stadler-Häbich, Vorstandsmitglied bei Roche und AUSTROMED. Auch Gladkov warnte davor, sich nicht zu lange mit Selbstverwaltungsthemen aufzuhalten und die Schuld, warum wichtige Schritte nicht gesetzt werden, anderen zuzusprechen, z.B. älteren Ärztinnen und Ärzten.
Alle Stakeholder einbinden
Außerdem müsse man sich mehr in die Startup-Szene hineinversetzen, so Wurzer: „Die Frage ist, ob Sozialversicherungsträger nicht von Beginn an die Chance haben sollten, solche Unternehmen mit Risikokapital zu unterstützen und ihnen in den Markt zu helfen.“ Denn Start-ups hätten oft nicht das Kapital, um ihre Anwendungen über viele Jahre finanzieren zu können. Neben der entsprechenden Finanzierung bräuchte es laut Stadler-Häbich Folgendes: „Einen effektiven, transparenten und innovationsfreundlichen Zugang von Herstellern und Start-ups zu den Patientinnen und Patienten.“ Und es müsse daran gedacht werden, dass DiGAs anderen
Zyklen unterliegen als klassische Medizinprodukte oder Arzneimittel, da sie auf Software basieren.
Gleichzeitig müssten auch alle relevanten Stakeholder eingebunden werden. „Es wäre ein Fehler, die Ärzteschaft nicht einzubinden, wenn man will, dass wir die Apps verschreiben und gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten anwenden“, erinnerte der Radioonkologe Dr. Stefan Konrad, Vizepräsident der Ärztekammer für Wien, an den Stellenwert seiner Berufsgruppe. Wie bei klassischen medikamentösen Neuentwicklungen müsse man auf die Ärzteschaft zukommen und ihnen die Zulassungsstudien näherbringen. „Es ist kein Wunder, dass gerade die Psychiatrie ein Spitzenreiter unter den DiGAs ist, denn jene können gerade bei chronifizierten Erkrankungen ein guter Begleiter sein“, so Konrad. Auch in der Onkologie könnten DiGAs einen Benefit in der Nachsorge bieten. „Ich glaube, es gibt viele Ärztinnen und Ärzte, die Lust darauf haben und sich darauf einlassen würden“, war auch Hacker bezüglich des Willens zu Neuerungen überzeugt.
Podiumsdiskutierende
- Bernhard Wurzer
- Peter Hacker
- Wolfgang Wacek (Moderation)
- Christine Stadler-Häbich
- Stefan Konrad
- Nathalie Gladkov
- Julia Schuster
- Michael Strassnig (Moderation)
- Johannes Pleiner Duxneuner
- Tanja Stamm
- Rainer Thiel
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